Freitag, 20. Dezember 2013

Ungarische Rhapsodie

Ungarn ist ein tolles Land, um zu studieren und eine super Zeit zu haben – aber wie geht es dem Land eigentlich?

Laut dem aktuellen Armutsbericht der EU-Statistikbehörde Eurostat leben 33 Prozent der Ungarischen Bürger in Armut – eine erschreckende Zahl! Davon bekommt man als Besucher, als Zaungast für ein paar Wochen ja gar nichts mit. Oder? Erinnern wir uns noch mal:

Da war dieses Schnellrestaurant mit Büfett in Eger. Die appetitlichen Speisen haben uns ins Innere gelockt, aber warum stehen da so viele Menschen am Rand und warten? Wir erhalten die Auskunft: Ab 18 Uhr kostet das Essen nur noch die Hälfte. Es ist 17:30 und der kleine Gastraum wird voller und voller. Sieht man sich die Reihen geduldig wartender Gäste an, so wird man den Gedanken nicht los, dass einige auf die günstige Verköstigung angewiesen sind. Als die Uhr endlich 6 schlägt, kaufen sie ihre zwei Schnitzel, die hier billiger als im Supermarkt sind, und tragen sie in der selbst mitgebrachten Tupperdose nach Hause.

Da war der große Flohmarkt nahe dem Budapester Stadtpark. Dort tummeln sich unzählige Touristen, die wohl weniger nach Schnäppchen jagen als nach Kuriositäten – Abzeichen aus den verschiedensten Regimes des vergangenen Jahrhunderts etwa oder Pornoheftchen aus den 70ern. Da sind aber auch diejenigen, die gekommen sind, um ihre ganze Familie für den Winter einzukleiden – mit H&M-Artikeln aus der vorvergangenen Saison. Das ganze Ausmaß der Verzweiflung wird einem aber erst bewusst, wenn man das Marktarreal verlässt und die inoffizellen Händler sieht, die sich am Straßenrand drängen. Auf einem Handtuch haben sie eine Handvoll Habseligkeiten vor sich ausgebreitet – zwei Jeans, ein Paar Schuhe, ein paar alte VHS-Kassetten... alles, was entbehrlich schien und unter Umständen ein paar Forint einbringt, um die Miete zu zahlen.

Die konservative Regierung unter Orban sieht durch all dies vor allen Dingen die Wählergunst gefährdet. Und reagiert mit Wahlwerbung frei Haus: Die Betriebskosten wurden um bis zu 30 Prozent gesenkt. Auch auf unserer Strom- und Wasserrechung steht, wie viel wir durch den glorreichen Einsatz der Fidesz gespart haben. Es sind ungefähr 2 Euro.

Da war die Ungarischstunde, in der sogar im Text unserem Lehrbuch davon die Rede war, dass immer mehr Ungarn Überstunden machen und Zweitjobs annehmen müssen, damit das Geld reicht. Das nimmt die Ungarischlehrerin Irén zum Anlass, von der Bildung des Präteritums abzuschweifen und von ihrem Sohn zu erzählen, der mit seiner Frau nach England ausgewandert ist. Als Ärzte dürften sie dort ein Vielfaches ihrer Kollegen in Ungarn verdienen. Jeden Sommer kämen sie aber zusammen mit ihren Enkeln für ein paar Wochen nach Hause zurück, erzählt sie mit leuchtenden Augen. „Sie sind gerne hier. Die Kinder sprechen auch Ungarisch“, sagt sie, wie als Rechtfertigung.

Wie Iréns Sohn haben um die 300 000 Ungarn in den letzten drei Jahren ihr Heimatland verlassen. Unter ihnen sind besonders viele hochqualifizierte Kräfte. Klar dass das der Politik Sorgen bereitet. Die versucht jetzt gegenzusteuern – indem sie junge Menschen, die in Ungarn studieren, noch vor Antritt ihres Studiums dazu verpflichten will, nach ihrem Anschluss eine gewisse Zeit nur in und für Ungarn zu arbeiten. Notwendige Abwendung das brain drain, sagen die einen. Freiheitsberaubung, sagen die anderen. Vor allem dürfte die Maßnahme einem anderen Problem Vorschub leisten: Dass die jungen Menschen gleich zum studieren ins Ausland gehen. Um das ungarische Bildungswesen ist es nämlich auch nicht allzu gut bestellt.

Da war die Politikstunde, in der die Dozentin mit vor Empörung kreischender Kreide folgendes Gleichnis an die Tafel schrieb. Der Staat Ungarn gibt jährlich rund 400 Millionen Euro für Bildung aus. Das entspricht dem Budget der Uni Bonn. Also einer hinsichtlich Größe und Ausstattung im deutschen Mittelfeld rangierenden Hochschule. Ein weiterer Vergleich macht das ganze endgültig absurd: Für den Neubau von Fußballstadien in Ungarn wurden unlängst 300 Millionen EUR vom Staatshaushalt bewilligt.
Dieses krasse Missverhältnis macht sich nun endgültig auch im Alltag von uns Studenten bemerkbar. Da war der Tag, an dem Bauarbeiter am frühen morgen einen provisorische Absperrung quer durch einen Flur der Faculty of Human Resouce Management gezogen hatten – die Uni hatte mal eben einen Teil ihres Gebäudes an die Stadt verkauft. Den großen Hörsaal kann man jetzt nur noch durch die Hintertür betreten, die Vorlesung wird von Gehämmer und Gebohre begleitet.

Der Stadt kann es aber auch nicht viel besser gehen – mussten doch die Angestellten der städtischen Museen ihre Büros räumen, weil nicht genug Geld zu heizen da ist.

Die Politik antwortet wie immer mit rechtspopulistischen Maßnahmen. So wird versprochen, die Einkommenssteuer in der nächsten Legislaturperiode von 16 Prozent auf einen einstelligen Betrag senken. Dabei hatte schon die letzte Einkommenssteuersenkung zu Anfang der letzten Legislaturperiode den Ärmsten der Armen eher geschadet – weil nämlich gleichzeitig die Verbrauchssteuern stiegen – also die Lebensnotwendigen Güter wie Öl, Gas und Strom teurer wurden. Dennoch oder gerade wegen solcher Augenwischereien wird Orban im kommenden Frühjahr mit großer Wahrscheinlichkeit wiedergewählt werden. Ein Weg aus der Misere ist nicht in Sicht.

Schaut mal auf die Seite www.pesterlloyd.net . Da bekommt man Parkinson vom vielen Kopfschütteln: Da gibt es ein Gesetz, mit dem Obdachlose von öffentlichen Plätzen verjagt oder mit Geldstrafe belegt werden. Da warten Lehrer im Staatsdienst wochenlang auf ihre Gehälter. Da gehen Journalisten ins Ausland, weil sie die Pressefreiheit nicht mehr gewährleistet sehen.

Liebes Ungarn, ich hoffe, ich verletzte jetzt nicht das Gastrecht, aber: Geht’s noch!?

Quellen:
http://www.deutschlandradiokultur.de/arm-und-reich-von-traumhochzeiten-und-dosensammlern.979.de.html?dram:article_id=270189
http://www.pesterlloyd.net/html/1350armutsberichteurostat.html#.Uqbu7SGhsP4.facebook

Freitag, 15. November 2013

"Zwei vollständige Identitäten" - Interview mit Stefan Szeitz

Stefan Szeitz, 27, ist seit 2011 Geschäftsführer des Lenau-Hauses in Pécs. Träger ist der 1985 gegründete Lenau-Verein, der größte deutsche Kulturverein in Ungarn. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, „der deutschen Minderheit bei der Wiedergewinnung und Bewahrung ihrer kulturellen Identität helfen, ihre Traditionspflege unterstützen und ihre eigene Geschichte bewusst zu machen“, so die Homepage der Institution. Das Haus beherbergt auch eine deutsche Bibliothek sowie Gästezimmer.

Sehr interessant und ungewohnt war für mich, die Bewertung von Sachverhalten aus ungarndeutscher Perspektive zu hören, z.B. in Bezug auf Folklore oder historischer Vorgänge. Wenngleich ich nicht jede Einschätzung bedenkenlos übernehmen würde.

Eine allgemeine Frage zu Eingang: Die deutsche Minderheit in Ungarn hat ja eine jahrhundertelange Geschichte. Was ist eigentlich das kennzeichnende für diese Gruppe, wo liegen Unterschiede zur ungarischen Bevölkerungsmehrheit?
Die Ungarndeutschen sind keine homogene Gruppe. Sie wurden aus unterschiedlichen Gebieten angesiedelt. Da gibt es die Katholiken, es gibt auch eine relativ große protestantische Gruppe, die meisten sind Süd- und Mitteldeutsch. Früher waren sie hauptsächlich in der Landwirtschaft tätig, das hat sich mittlerweile natürlich geändert. Was bleibt, ist, dass die meisten Deutschen auf dem Land leben, in Dörfern. Außerdem sind die meisten Winzer Ungarndeutsch.
In der Stadt, auch hier in Pécs, gibt es eigentlich kein verbindendes Element. Die meisten, die in Pécs leben sind eingewandert von den Dörfern. Aber sie betreiben eine große Palette von Gewerkschaften. Von Architekten bis zu Universitätsprofessoren ist alles vertreten. Es sind unter ihnen auch überdurchschnittlich viele mit einer hohen Ausbildung. Die Ungarndeutschen waren früher und sind auch jetzt gut ausgebildet. Die meisten besitzen ein Diplom oder mindestens ein Abitur.

Das Lenau-Haus hat ja unter anderem die Aufgabe, in dieser heterogenen Gruppe ein Gemeinschaftsgefühl zu stiften. Was ist Ihre Erfahrung, gibt es trotz der Unterschiedlichkeit einen Zusammenhalt unter den Deutschen?
Ja, schon. Alle verstehen sich als Ungarndeutsche hier. Sie grenzen sich nicht voneinander ab, wenn einer zum Beispiel aus Böhmen kam, einer aus Bayern und einer ist ein „Schwob“. Alle Ungarndeutschen verstehen Ungarn natürlich auch als ihre Heimat. Jeder Ungarndeutsche ist auch ein Ungar. Wir sind keine Bundesdeutschen, wir sind Ungarische Staatsbürger, aber wir haben gemeinsame Deutsche Wurzeln. Wir haben auch eine Landesselbstverwaltung der Deutschen, das verbindet natürlich auch.

Eine wichtige Rolle für die Identität der Minderheit spielt sicher die Sprache. In welchen Situationen wird Deutsch gesprochen und gelernt?
Das ist ganz unterschiedlich. Heutzutage wird die Sprache eher selten als Muttersprache erlernt. Man könnte auch sagen, das ist für sie eine Zweitsprache oder eine neu erlernte Sprache. Bei den Älteren, die unmittelbar vor oder nach dem 2. Weltkrieg geboren sind, wurde Deutsch noch als Muttersprache erlernt. In der sozialistischen Ära war das Deutschtum nicht so angesehen, da hatte man Angst, dem Kind die deutsche Kultur und Sprache beizubringen. Heute kann man aber noch eine neune Tendenz finden, dass man viele, die ungarndeutscher Herkunft sind, dem Kind deutsche Namen geben und von klein an die Sprache beibringen. Die Tendenz ist also steigend.

Wie ist das eigentlich mit der Jugend? Gibt es ein Nachwuchsproblem?
In den Städten ist es tatsächlich schwer, junge Leute für Minderheitenprogramme oder Minderheitenangelegenheiten zu begeistern. In einer kleinen Gemeinde ist es viel einfacher. Wo zwischen 500 und 1000 Einwohner leben, da gibt es nicht so viele Möglichkeiten sich zu bilden oder für Freizeitangebote. Da entschließen sich die Jugendlichen eher für eine Blaskapelle oder auch für eine Tanzgruppe, für einen Verein. Da sind die Jugendlichen viel aktiver im Minderheitenleben dabei als in der Stadt, wo die Konkurrenz sehr groß ist. Ich versuche natürlich, Programme und Aktivitäten anzubieten, die für die Jugendliche interessant sein können, zum Beispiel den Filmclub. Jetzt wollen wir die Angebote auch ein bisschen erweitern. Wir wollen mehr Workshops oder Veranstaltungen organisieren, die Anknüpfungspunkte zur deutschen Kultur und zur Kultur der Ungarndeutschen haben und gleichzeitig Jugendliche ansprechen, die sozusagen trendy oder sexy sind.

Wir haben mit der Seminargruppe eine Kunstvernissage in Ihrem Haus besucht. das Rahmenprogramm bestand hauptsächlich aus Folklore– Trachten und traditionelle Musik und Gesang. Welche Funktion übernimmt die Traditionspflege für die Gemeinschaft?
Eigentlich kann man sich mit der Tradition ganz gut von der Mehrheit abgrenzen. Damit können wir dann die gemeinsamen Wurzeln, die kulturelle Zusammengehörigkeit auch visuell transportieren. Und das gibt natürlich ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Im Dorf ist diese Tradition auch noch heute sehr lebendig.

Hat das Lenau-Haus auch Angebote, um diese Tradition zu vermitteln?
Wir wollen immer so was anbieten, was es nicht gibt. Tänze, Blasmusik, das kann man in vielen Orten erlernen. Auch in Pécs gibt es eine traditionelle Tanzgruppe und Blaskapellen an verschiedenen Schulen. Wo das eigentlich schon gut läuft, wollen wir uns nicht einmischen.

Das interessante an dieser Tradition ist ja auch, dass sie in Deutschland im Begriff ist, völlig verloren zu gehen. Bräuche und Folklore gelten als extrem „unsexy“ und werden an vielen Orten überhaupt nicht mehr gepflegt. Warum ist das hier anders?
Das liegt vielleicht schon an dem Minderheitenstatus. Es hat auch eine gewisse Abgrenzungsfunktion, die Tradition zu pflegen. Wobei man sich natürlich nicht von der Mehrheit abgrenzen will, man will damit vielmehr etwas Zusätzliches bekommen. Hier hat die Brauchtumspflege ein relativ hohes Ansehen, sowohl bei den Älteren als bei den Jugendlichen. Natürlich nicht bei allen. Das kommt auch auf das persönliche Interesse an.

Somit können Sie aber nicht für sich beanspruchen, „die“ authentische deutsche Kultur zu vermitteln. Sondern Ihre eigene, autonome ungarndeutsche Kultur.
Ja, die ganze Kultur hat sich mit den Jahren abgegrenzt von Deutschland. Das ist ganz interessant, denn aus Deutschland kommen auch immer Sprachforscher, die dann die alten deutschen Dialekte hier in Ungarn finden oder in Rumänien.

Dann lassen Sie uns jetzt ein wenig über den Bezug zum aktuellen Deutschland sprechen.
Wir sehen es natürlich auch als unsere Aufgabe an, die moderne deutsche Kultur zu vermitteln und zu pflegen und im Ausland zu präsentieren. Wir laden Künstler, Musiker, Autoren aus der Bundesrepublik Deutschland ein, damit sie ihre aktuelle Kunst auch hier zeigen können. Den Ungarndeutschen und natürlich auch den Ungarn, da wollen wir uns nicht auf eine Zielgruppe begrenzen. Sondern jeder, der Interesse für die deutsche Kultur hat, kann dabei mitmachen. Eigentlich muss man nur die Sprache sprechen, da die meisten Veranstaltungen bei uns nur auf Deutsch laufen.

Was für Kontakte haben sie als Institution nach Deutschland?
Wir haben einen lebendigen Kontakt mit Deutschland. Nicht nur mit dem Goethe-Institut, sondern auch mit der Robert-Bosch-Stiftung und auch mit dem Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart. Und natürlich noch mit anderen Vereinen und mit unserer Partnerstadt Fellbach.

Sie stammen aus einer Ungarndeutschen Familie. Bleibt man da über Nachrichten, Kultur und Politik in Deutschland auf dem Laufenden? Werden die deutschen Medien verfolgt?
Ja, schon. Die Ungarndeutschen identifizieren sich mit der Sprachgemeinschaft der Deutschen, Die deutschen Medien werden verfolgt, das geht relativ leicht. Deutsche Presse und deutsches Fernsehen ist hier recht einfach zugänglich.

Hat die Minderheit auch eigene Presseorgane?
Es gibt zwei größere Zeitungen, die landeweit verteilt werden: Einmal die neue Zeitung, das ist ein Wochenblatt, und ein Sonntagsblatt. Das ist viel kritischer, ein bisschen größerem Rahmen, aber es erscheint zwei-dreimal im Monat.

Welche Rolle spielt die Minderheit in den Deutsch-Ungarischen Beziehungen? Äußert man sich auch kritisch zur aktuellen politischen Lage in Ungarn?
Also, wir als Lenau-Haus gehen auf politische Gegebenheiten nicht gerne ein. Das hat auch keinen Sinn. Dafür gibt es die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen, das ist so eine halbpolitische Institution, die Interessenvertretung der Ungarndeutschen und die spielt auch als Vermittler zwischen Deutschland und Ungarn eine gewisse Rolle. Bei der politischen Diskussion beziehen wir uns nur auf die Fragen, die die Minderheit betreffen. Da äußern wir uns und da haben wir auch eine Meinung. Aber in landesweite politische Angelegenheiten wollen wir uns nicht einmischen.

Und wie sieht das Zusammenleben der Deutschen und Ungarn auf persönlicher Ebene aus? Wird man als Deutscher noch bisweilen mit Vorurteilen konfrontiert, was die Geschichte anbelangt?
Ich glaube nicht. Es gab die paar Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg, wo die Kollektivschuld den Deutschen zugesprochen wurde, damals hatte man ein bisschen Angst, sich zum Deutschtum zu bekennen. Aber wie ich das so gehört habe, war das in der Bevölkerung nicht so ein ernsthaftes Thema, eher auf politischer Ebene. In den Dörfern waren eigentlich keine ethnischen Probleme zu erkennen. Die Deutschen lebten auch früher schon nicht nur mit den Ungarn, sondern auch mit den Slaven zusammen, in Braunau gibt es viele Serben und Kroaten und auch viele weitere Minderheiten. Und es gab nie eine Konfrontation zwischen den Deutschen und anderen Nationalitäten Die konnten relativ gut nebeneinander leben. Es gab natürlich vereinzelt Konflikte, aber dann eher auf persönlicher Ebene und nicht wegen der Nationalitätenangehörigkeit.

Jetzt sind in der Zeit während und nach dem zweiten Weltkrieg auf beiden Seiten Verletzungen geschehen. Gibt es da eine Aufarbeitung?
Ja, natürlich. Es war ein großer Schritt von der politischen Elite voriges Jahr, als sie sich im Parlament bei den Ungarndeutschen entschuldigt haben für die Aussiedlung nach dem zweiten Weltkrieg. Es wurde auch ein Gedenktag für die Aussiedlung nach dem 2. WK eingeführt. Der soll dann jedes Jahr neu organisiert werden, ähnlich wie für den Holocaust. Damals war es gar nicht so unterschiedlich, wie das Ganze ablief. Die Juden wurden 43/44 deportiert. Und zwei Jahre später wurden die Deutschen ausgesiedelt, mit denselben Zügen, mit denselben Waggons, dieselbe Methode. Das war bis zur Wende so ein Tabu-Thema, worüber man nicht gesprochen hat. Nach der Wende waren mehrere Konferenzen, die ganze Diskussion fing eigentlich auf der wissenschaftlichen Seite an. Historiker und Politiker haben dann angefangen, darüber zu sprechen, und inzwischen ist es dazu gekommen, dass man mit den historischen Ereignissen konfrontiert wird uns sich das anschaut. Das ist sehr positiv.

Mir und vielen anderen Bundesdeutschen ist der Gedanke fremd, die eigene Identität so stark an eine Nationalität zu knüpfen, wie das bei den deutschen Minderheiten im Ausland der Fall ist. Was hat man eigentlich davon, was gibt Ihnen das?
Das ist ein Mehrwert, den man dadurch erzielt. Man gehört nicht nur zum Ungarntum, sondern auch zum Deutschtum, hat die deutsche Kultur. Das sind zwei vollständige Leben und Identitäten die man vereinen kann, und nicht nur eine. Das wird zu einer Selbstverständlichkeit. das führt auch nicht zu Rollenkonflikten oder Fragezeichen, wer ich eigentlich bin.

Sonntag, 10. November 2013

Unterwegs im Osten II

Es waren Herbstferien und ich war unterwegs. 1 1/2 Wochen, 3 Länder, 6 Städte, 7 unglaubliche Gastgeber, 12 Zug- und Autofahrten, unzählige Begegnungen und Geschichten... Ich bin überfordert. Daher hier nur ein paar Blitzlichter. Ungeordnet, unkommentiert, eher weniger als mehr durchdacht und durcharbeitet.
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Orte, Menschen, Dinge

Ort: Minarett, knézich Karoly utca, Eger

Muezzins haben es nicht leicht. Fünfmal täglich müssen sie über den Dächern der Stadt die Gebetszeit ankündigen. Und so ein Minarett ist verdammt eng und verdammt hoch. Zumal, wenn es aus dem 17. Jahrhundert stammt wie das in Eger. Das ist heute das nördlichste osmanische Gebäude überhaupt. Und eines der wenigen Erinnerungen daran, dass die Osmanen fast 150 Jahre lang hier waren.
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Die Stadt Eger spielt eine besondere Rolle in dieser Episode ungarischer Geschichte: 1552 konnten die tapferen Egerer die Festung mit einer kleinen Truppe und viel Heldenmut noch vor einer türkischen Übermacht verteidigen – Stoff für einen der beliebtesten ungarischen Romane überhaupt, den Historienschinken „Sterne von Eger“. Vierzig Jahre später hat man die Burg dann doch den Türken überlassen, die aus Dankbarkeit für den überwältigenden Sieg eine Moschee nebst besagtem Minarett erbauen ließen. Die Moschee steht schon längst nicht mehr, der schmale, puritanische Turm steht etwas verloren zwischen den prächtigen barocken und klassizistischen Palais in der Egerer Altstadt.
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Es ist eine Art begehbare Zeitreise. Unbeleuchtet und so eng, dass man zugleich Kopf und Bauch einziehen will, während man sich nach oben schraubt. Und wenn man endlich wieder in Luft und Licht tritt, liegt einem tatsächlich ein Dankesgebet auf den Lippen.
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Ort: Staniče námestie 1, Košice

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Wir stehen vor dem Košicer Hauptbahnof und wollen gerade am Automaten ein paar Bustickets lösen, als wir plötzlich von einer Horde Romakinder umzingelt sind. Mit großen Augen und ausgestreckten Händen drängen sie sich an uns und wiederholen dabei immer wieder dieselben Worte: Money money please, money money please...“ Als die erwünschte Reaktion ausbleibt, erhöhen sie die Frequenz, steigern sich in einen weinerlichen Singsang, der Wunsch, das Gezeter mit einer milden Gabe schnell zu beenden wird von einem sich anbahnenden leichten Kopfschmerz befördert. Als der Automat das Wechselgeld herausgibt, verliert die Rasselband gleich das Interesse an uns. Da zucken die unglaublich schmutzigen Hände in Richtung Schlitz. Um nach Misserfolg gleich wieder mit dem betteln und bitten fortzufahren.

Ort: Spišské podhardie, 10:23

Wir wollen zur Zipser Burg wandern. Allein: Von Burg keine Spur. Auch der zugehörige Berg ist noch von dichtem Nebel verschluckt. Wir schlagen einen Weg ein, und nach ein paar Momenten ist auch das Dorf, aus dem wirr kamen, im Nebel verschwunden. Wir stecken fest irgendwo Nichts und Nichts und laufen ist Ungewisse... In den Spinnennetzen auf dem abgeernteten Feld glitzern die Tautropfen. Da plötzlich, tauchen die Gemäuer einer mächtigen Festung vor uns auf. Die Konturen zeichnen sich durch die Nebelschwaden ab wie durch Transparentpapier, gespenstisch und schön zugleich. Kant hätte diesen Anblick wohl in die Kategorie des „Erhabenen“ eingeordnet...
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Wenig später haben wir die Wolkendecke durchbrochen und sehen außer der Zippser Burg nur noch die umgebenden Berggipfel. Von den Mauern der Festung aus beobachten wir, wie sich die Schleier langsam aus dem Tal zurückziehen und der strahlende Oktobertag sich über die Landschaft ergießt.
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Menschen: Heike (59) und Klaus (62), Angestellte aus Eisenstadt

Heike und Klaus sind ein gemütliches Ehepaar kurz vor Eintritt ins Rentenalter. Und sie haben eine Leidenschaft: Vögel beobachten. Klingt nach einem angemessenen Hobby für diese Altersklasse; wir sind zunächst skeptisch. „Ich bin gerade in meiner Kranich-Phase“, sagt Heike lachend, als handle es sich um ein Krankheitsbild. Und ein bisschen Wahnsinn steckt schon dahinter. Voll Begeisterung erzählen uns die beiden, dass die nur wegen der Kraniche eine Woche Urlaub genommen haben. Die majestätischen Vögel kommen aus Finnland und wechseln alle paar Jahre aus unbekannten Gründen ihre Reiseroute. Seit ein paar Jahren verbringen sie die Zeit bis zum ersten Frost hier, in der Puszta.
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„Puszta“ bedeutet Leere und das ist auch ziemlich zutreffend. In dem ganzen weltberühmten Nationalpark gibt es ungefähr einen Ort, der mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar ist. Deshalb haben wir uns bei den sympathischen Österreichern eingemietet, die im Auto, ausgestattet mit Fernglas und Kamerastativ das Gelände durchstreifen. Dabei erzählen sie vom eindringlichen Gesang und wunderschönen Formationsflug jener Tiere, die Poeten wie Schiller und Brecht zu herrlichen Gedichten inspirierten. Langsam wächst unsere Neugierde und beginnen die beiden Experten auszufragen. Die geben bereitwillig Auskunft und wir erfahren unter anderem, dass schon die Griechen aus dem Flug der Kraniche die Zukunft vorauszusagen versuchten. Inzwischen sind wir am Endpunkt unserer Exkursion angelangt, einem Aussichtsturm inmitten einem riesigen Fischteich-Areal. Die Dunkelheit legt sich schon über die Landschaft, am Horizont verabschiedet sich der Tag mit einem Finale in rosa und orange. Und noch während wir die letzten Stufen zur Aussichtsplattform erklimmen, ziehen plötzlich die Kraniche über unsere Köpfe zu ihrem Schlafplatz in den Teichen. Der Strom will nicht abbrechen – es müssen zehntausende sein. In eleganten Linien, fein geschwungenen Böden, wie auf ziseliertem Metall, malen sie immer neue Muster in den abendroten Himmel. Was das wohl für unsere Zukunft zu bedeuten hat?
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Ort: Neon City Garden, Kassai út 7, Debrecen

Ein Klub, wie er ungarischer nicht sein könnte: Die Wände sind ganz in den Nationalfarben gestrichen. Dazwischen die Portraits der Aushängeschilder der Nation: Der Hunnenkrieger Attila, Dichter Sandor Petöfi und auch der Rubicube, eines der größten Geschenke der Ungarn an die Welt, sind hier zu finden. Ein deutscher Pub im schwarz-rot-goldenen Look, mit König Barbarossa, Heinrich Heine und dem VW Golf an den Wänden? Schwer vorzustellen. Die Einstellung der Ungarn ihrer Nation gegenüber ist schon eigenartig. Auf jeden Fall ist sie Gegenstand ständiger Auseinandersetzung. „Dabei schlägt das Pendel zwischen Selbstüberschätzung, Selbstmitleid und Minderwertigkeitskomplexen wild hin und her“, diagnostiziert meine „Gebrauchsanweisung für Budapest und Ungarn“. Auf jeden Fall ist ihnen daran gelegen, sich nach außen gut zu präsentieren. Unser Gastgeber in Debrecen, Duke, hat uns zur Geburtstagsfeier seines Kollegen mitgenommen und wir haben schon seit drei Stunden kein Getränk bezahlt. Das Geburtstagskind wird nämlich auch bald Vater und ist in Spendierlaune. Dann aber wieder diese Selbstbeschimpfungen. „Debrecen is nothing special“, sagt Csaba. „The Puszta is very dull“ sagt Réka. „Hungarians are very depressed“ sagt Balázs. Egal, wo und gegen wen sie gekämpft hätten: Immer haben sie verloren. „Es gibt keinen Grund, als Ungar stolz auf die Geschichte seines Landes zu sein“. „Da haben wir ja schon was gemeinsam“ sage ich. Das bringt Balázs zum Lachen und wir trinken auf die deutsch-ungarische Brüderschaft.

Ding: Sandy, Dacia Sandero, 41 000 km, 7,6l/100 km

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Sandy stöhnt. Als kleiner, weniger Stadtwagen wird sie in der Werbung angepriesen. Als flinker Straßensprinter. Die Federung und der Hubraum hingegen lassen zu wünschen übrig. Für das hier ist sie nicht gemacht: Das war schon das fünfte Schlagloch innerhalb weniger Sekunden! Sandy zittert und bebt. Der Untergrund scheint immer holpriger, die Löcher immer tiefer zu werden, es geht kaum voran und rückwärts erst recht nicht. Auf der Karte, die die beiden Insassinnen vom Apuseni Nationalpark in Transsylvanien gekauft hat, gibt es drei Arten von Straßen: gelbe, weiße und schwarze. Die Farbgestaltung scheint aber wohl ausschließlich anhand ästhetischer Überlegungen erfolgt zu sein. Einen Informationsgehalt jedenfalls vermittelt sie nicht. Eher im Gegenteil. Man könnte nämlich leicht auf den Gedanken kommen, die verschlungenen Linien auf dem Papier würden tatsächlich den Verlauf von Straßen anzeigen. Nun ist „Straße“ zwar ein dehnbarer Begriff, vor allem in Rumänien. Aber diese Mischung aus Waldweg, Schlammgrube und Schotterpiste hat diesen Namen nicht und niemals verdient.
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Vor uns und hinter uns quälen sich die Jeeps durch Täler und über Pässe, die Fahrerblicken mitleidig in das etwas verlorene kleine Auto. Aber Sandy macht tapfer weiter. Hätte man dem Mädchen gar nicht zugetraut, dass sie so wenig zimperlich ist. Der schöne rote Lack ist unter dem ganzen Staub und Schlamm schon gar nicht mehr zu erkennen. Warum die beiden Abenteurerinnen sich und Sandy das trotzdem antun? Seht selbst:
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Ort: Orthodoxe Kathedrale, Bulevardul Regele Ferdinand, Timisoara

Was zuerst auffällt, ist diese Geschäftigkeit, die man aus katholischen und evangelischen Kirchen so gar nicht kennt. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Hausfrauen mit Einkaufstüten, Checker mit tiefsitzenden Hosen, Studentinnen mit Trenchcoat und Stöckelschuhen – sie alle suchen diesen Ort auf, mitten am Tag, in der Mittagspause, kurz nach Feierabend... Und dann laufen sie auf dem roten Teppich bis zur Mitte des Raumes, wo drei Ikonen auf kleinen Holzpulten stehen. Sie bekreuzigen sich, viele verbeugen sich auch bis zum Boden, dann küssen sie die Heiligenbilder. Noch ein Kreuzzeichen, noch einmal tief durchatmen, und dann geht’s wieder in die wilde Welt da draußen. Dass die Kirche trotz der hohen Fluktuation nicht hektisch wirkt, liegt wohl an dem schweren Ernst, den der Raum ausstrahlt. Es fällt kaum Licht durch die wenigen Fenster, die Wände und Decken sind mit viel Gold und dunklen Farben überzogen. Ein Gottesdienst ist im Gange, einige Geistliche stehen in der geöffneten Ikonenwand und vollführen ihren meditativen Singsang. Die Zeremonie scheint nicht so wichtig zu sein, die Menschen nehmen kaum Notiz davon. Sie kommen und gehen einfach, wie es in ihren Tagesablauf passt. Ein lebendiger Ort und zugleich einer, der ein Fenster für Ruhe und Reflektion in den Alltag schlägt. Der ganz selbstverständlich Raum für Spiritualität schafft. Schön eigentlich.
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Mensch: Gyuri, 29, Wirtschaftswissenschaftler aus Szeged

Gyuri ist ein bisschen typisch ungarisch: Eigentlich ist er total freundlich, man merkt es nur nicht gleich. Gyuri ist zuvorkommend, hilfsbereit, aber dabei auch sehr pragmatisch. Er macht nicht gerne viele Worte, kommt gerne schnell zum Punkt. Wenn er einem etwas anbietet, klingt das fast wie ein Befehl. Er ist halt Wissenschaftler. Sentimentalität ist nichtzielführend. Vor allem in der Betriebswirtschaftslehre. Man ist schnell damit fertig, Gyuri in eine Schublade einzuordnen.
Doch dann übersieht man, was Gyuri wirklich ist. Und zwar ein Idealist. Er beschäftigt sich nämlich nicht mit Börsen, Banken und Renditen. Sondern mit Armut. Und das bedeutet in Ungarn oft: Mit Roma. Auf die Frage nach seinen wissenschaftlichen Methoden knallt es nur wortlos eine Ausgabe „Action Research“ auf den Tisch. Und erläutert dann nur knapp, dass für ihn die wissenschaftliche Untersuchung immer Maßnahmen nach sich ziehen sollte. Nicht nur, weil man dann einen Schlüsse und Diagnosen gleich selbst verifizieren kann. Sondern weil Erkenntnis Verantwortung mit sich bringt. Seine Arbeit hat die Aufgabe, die Situation der Menschen, seiner „Untersuchungsobjekte“, zu verbessern. Ganz einfach.
Man wird von Gyuri keine einzige pauschale Bemerkung über Roma hören, keine Schuldzuweisungen, keine politischen Appelle. Seine Lösungsweg: Individuell zugeschnittene Programme, die auf die Situation vor Ort eingehen. Deshalb baut er mit seiner Freundin gerade eine Nachmittagsschule für Romakinder auf. Die beiden stecken unheimlich viel Kraft und Zeit in die Verbreitung der Idee. Gyuri und seine Freundin sind Menschen mit einer Leidenschaft. Auch wenn man es ihnen nicht sofort anmerkt.

Montag, 21. Oktober 2013

The new order

„Eins muss man euch Deutschen ja lassen“ sagt Krzysztof und nimmt einen Schluck Bier. „Ihr seid die Besten, wenn es darum geht, Lager zu organisieren“.

„Danke“, sage ich im gespielt-geschmeichelten Ton, „aber ohne polnischen Hilfe würden wir das nicht schaffen“.

Diskussionen wie diese, bei denen Außenstehenden vor Schreck die Ohrmuscheln abfallen würden, sind an der Tagesordnung, wenn wir mit Krzyszek und Tomasz unterwegs sind. Die beiden jungen Polen studieren Wirtschaft in Wroclaw und sind wie ich für ein Semester an der Universität Pécs.

Man könnte diese Art der Kommunikation unangemessen finden. Ich musste auch schlucken bei den ersten Sprüchen unserer beiden polnischen Freunde, die verständlicherweise meistens auf Kosten der Deutschen gehen. Da sprechen sie von einer „German invasion“, wenn mehr als zwei Deutsche im Raum sind, oder werfen meiner deutschen Freundin augenzwinkernd vor, die Herrschaft über die Erasmusgruppe an sich zu reißen, wenn sie ein Programm für den Abend entwirft. „Typisch deutsch!“

Aber woher rührt meine Befangenheit? Persönlich angegriffen fühle ich mich von den historischen Referenzen nicht. Zu groß ist die Distanz zwischen dem dritten Reich und meiner Lebensspanne, zu gering ist meine Identifikation mit dem Land, in dem ich nun mal zufällig geboren bin. Und mal ehrlich: Die deutsch-polnische Vergangenheit und gerade der Nationalsozialismus bieten ein schier unendliches Repertoire für Witze und Sticheleien. Mit der Zeit habe ich einfach Spaß an dem Spiel gefunden und genieße es, ab und an zurückzuschießen.

„Ach wisst ihr, wir Deutschen mögen Polen einfach zu gerne“, sage ich. „Deshalb kommen wir immer wieder hin.“ „Jaja, ihr habt uns zum Fressen gern“ lacht Krzys. Wir beide wissen, dass er nicht wirklich mich meint und ich nicht wirklich ihn. Aber die historischen Fakten sind uns bekannt, und wir nehmen sie ernst.

Als wir die Kneipe verlassen, hält Tomasz mir die Tür auf. „Für einen Polen bist du ganz schön höflich,“ sage ich. „Das habe ich bestimmt von meinem Großvater. Der hat das gelernt, als er in Deutschland war. Als Kriegsgefangener“. Pause. „Stimmt das?“ Tomasz nickt. „Er hat nie sehr viel davon erzählt, aber ich glaube, es hat ihn sein ganzes Leben lang geprägt“.

Scherz und Ernst liegen bei dieser Art Geplänkel naturgemäß sehr nahe beieinander. Aber es ist nun mal so: Die deutsch-polnische Geschichte ist von blutigen Auseinandersetzungen durchzogen, die bis heute das Gesicht und die Beziehung beider Länder prägen. Gerade die Wunden, die Deutschland Polen zugefügt hat, sind zu schmerzlich, um einfach darüber hinweg zu gehen. Soll man das einfach ignorieren? Ist es nicht besser, das Thema zumindest im Scherz präsent zu halten? Meiner Meinung nach liegt darin eine Chance zur fortgesetzten Auseinandersetzung. Ein waches Geschichtsbewusstsein ist auch die Grundlage dafür, das zu schätzen und zu schützen, was wir jetzt haben.

Schlagartig wird einem bewusst, wie großartig und alles andere als selbstverständlich es ist, dass heute junge Polen und Deutsche zusammen mit Franzosen, Italienern und Russen friedlich plaudernd in einem ungarischen Pub beisammen sitzen können.



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So ist zunächst meine Einstellung.... Ganz sicher bin ich mir aber nicht. Eure Meinung zu dem Thema würde mich ziemlich interessieren! Kommentare hier oder auf Facebook sehr erwünscht!

Donnerstag, 17. Oktober 2013

Unterwegs im Osten - Teil 1: Slowenien und Kroatien

Viele denken ja, das Wort „Balkan“ sei eine Bezeichnung für eine Region in Europa. Weit gefehlt! Versuch nur mal, die Länder aufzuzählen, die zum Balkan dazugehören. Unmöglich. Selbst einschlägige Onlinelexika kommen hierbei zu keinem eindeutigen Ergebnis. Richtig ist: Balkan ist eine Eigenschaft.

Das wird mir klar, als wir mit dem kroatischen Studenten Marko über einen Flohmarkt streifen und ich ihn frage, ob denn hier verhandelt werden darf. „Hier nicht“, antwortet dieser. Aber es gebe einen zweiten Flohmarkt am Stadtrand, auf den ich nur selten Touristen verirren „Da geht es drunter und drüber, ein Riesenchaos“, erklärt Marko. „It`s very Balkan“.

Länder gehören also nicht dem Balkan an, sie sind mehr oder weniger Balkan. Welche Länder? All jene, die das Wort „Balkan“ in ihrer Selbstbeschreibung miteinbeziehen – sei es, um sich zu beschreiben oder sich davon abzugrenzen. Serbien und Albanien sind zum Beispiel unbestritten sehr Balkan. Ungarn, Slowenien, Rumänien und Kroatien hingegen zählen zu den Ländern, deren Balkan-Status fragwürdig ist. Deshalb werde ich als pflichtgetreue Kulturwissenschaftlerin diese Länder bereisen und nach bestem Gewissen Auskunft darüber geben, was es bedeutet, Balkan zu sein, und wer die Kriterien erfüllt und wer nicht.

Ljubljana
Unser Zug fährt mit über einer halben Stunde Verspätung in Ljubljana ein. Mit anderen Worten, ungefähr um Mitternacht. Very Balkan. Unser Couchsurfing-Gastgeber Miha wartet schon am Bahnsteig auf uns. Unser Angebot, uns wegen unserer späten Ankunft doch lieber ein Hostel zu suchen, hat er empört zurückgewiesen: „Are you kidding?“ Obwohl alle müde sind, wird an Mihas Küchentisch erst mal geplaudert – über seine Job als Programmierer, übers Reisen und über Sprachen. Irgendwann zückt Miha eine Flasche Rumlikör aus Litauen – der Beginn einer sehr promillereichen Reise durch halb Europa (Miha ist viel herumgekommen und kam selten mit leeren Händen heim), wobei die Konversation immer ausgelassener wird. Nach fünf Stunden Schlaf wird sie bei einem ausgiebigen Frühstück weitergeführt. Allgemein lässt sich feststellen: Die Gastfreundschaft der Menschen, denen wir auf dieser Reise begegnen, ist absolut überwältigend. Will man die Gastgeber als kleines Zeichen der Dankbarkeit ebenfalls einladen, erntet man Empörung.

Und auch die Stadt Ljubljana macht es einem leicht, sich das Gast wohlzufühlen. Eine Stadt wie ein Wohnzimmer, so geschmackvoll und gemütlich. Auf den großen Plätzen überwiegt der dekorreiche k. u. k.-Stil, abseits finden sich verschlungene Gassen voller Cafés, in denen man Gibanica essen kann, eine sensationelle Erfindung aus Blätterteig, Quark, Walnuss und Mohn. Das Parlament, die Botschaften, die Museen – all das wirkt für eine Hauptstadt sehr bescheiden. Und die Slowenen betonen gern, dass sie hart arbeiten für den kleinen Wohlstandsvorsprung, den sie gegenüber ihren östlichen Nachbarn haben. Und der sie unbeliebt macht. Für die Kroaten sind die Slowenen offensichtlich der Streber, der dem Lehrer Europa die Tür aufhält. Not very Balkan.

In ihrem Buch „Imagining the Balkans“ bringt die bulgarische Intellektuelle Maria Todorova das Balkansche Charakteristikum auf folgende Formel: „Europe, but not Europe“ – also ein Spannungsfeld zwischen Zugehörigkeit und Andersartigkeit. Balkan, das ist das chaotische, unzivilisierte, uneuropäische Element. Ursprünglich ließ sich so die westeuropäische Perspektive auf die Länder im Südosten des Kontinents, von denen man sich abgrenzen wollte, zusammenfassen. Aber die Ideen, die im Westen – ob zu Recht oder zu Unrecht, sei daher gestellt- über den Balkan verbreitet wurden, schwappten auf die bezeichneten Länder über. Sie wurden zu Teil ihres Selbstbildes. In Slowenien versucht man, das Image des Taugenichts loszuwerden. In Kroatien begegnet man der Bezeichnung „Balkan“ durchaus zärtlich. Schließlich besteht auch hier das Bedürfnis, sich abzugrenzen zu den hochentwickelten Ländern, in denen Zucht und Ordnung und Langeweile herrscht. Das Spontane, Unkontrollierte, Gelassene ist wertgeschätzter Teil der Balkan-Identität.

Zagreb
Dazu gehört in Kroatien auf jeden Fall auch die Kaffeekultur. Sommers wie Winters gruppieren sich auf allen Plätzen Zagrebs die Menschen um ihre Tassen. „Croatian culture is all about coffee“ resümiert Marko, während wir uns ebenfalls eine Tasse des sehr starken und sehr guten Koffeingetränkes und Kaffeeklatsch über die Nachbar(staaten) austauschen. Die Vorliebe fürs beobachten uns vergleichen mit anderen ist eine Gemeinsamkeit der Balkanstaaten. Sei es wegen der bewegten und nicht immer friedlichen Geschichte dieser Weltgegend, sei es, weil die vergleichsweise kleinen Staaten immer unter Druck stehen, ihre Einzigartigkeit zu beweisen. Marko studiert Politikwissenschaften, er hat ein Jahr in Chemnitz verbracht. Er schildert uns die Vorurteile und Zänkereien der Staaten mit Balkanpotential sehr subjektiv und zugleich reflektiert. Die Slowenen werden wegen ihrer allzu ambitionierten Pose geringschätzig betrachtet – wobei die aktuelle Wirtschaftskrise die wirtschaftlichen Unterschiede langsam, aber sicher einebnet. Serbien wird bisher noch mit dem nicht lange vergangenen Krieg in Verbindung gebracht – Misstrauen prägt das Verhältnis auf beiden Seiten. Gegenüber Bosnien, Montenegro, Kosovo überwiegt hingegen das Mitleid – „Das sind Entwicklungsländer im Vergleich zu uns“, meint Marko.

An Selbstbewusstsein mangelt es Kroatien jedenfalls nicht. Allgemein fühlt sich in der kroatischen Metropole um einiges urbaner an als die putzige slowenische Hauptstadt. Zagreb ist eine Großstadt, und das weiß sie. Hektisch, bunt, schmutzig – und atemberaubend schön, wenn man an einem dunstig-blauen Oktobertag von der Oberstadt auf das Zentrum hinabblickt. Zwar hat sich der Sozialismus bis unter die Bauten im schmucken Wiener Stil vorgefressen. Aber irgendwie steht dieser Stilbruch der Stadt, er bescheinigt ihr „street credibility“.

Marko wohnt in einem Wohnheim und kann uns nicht beherbergen. Deshalb lernen wir später am Tag noch unsere Gastgeber für den heutigen Abend kennen, Juraj und Rose kennen. Die beiden stehen ziemlich früh auf, um ihrem großem Hobby, dem Reisen, nachgehen zu können. Die Balkan-Mentalität sehen sie deshalb eher kritisch. „Alle beklagen sich darüber, dass sie keine Arbeit und kein Geld haben, aber: Die Kaffees auf dem Hauptplatz, wo die Preise am höchsten sind, sind immer voll“, sagt Juraj. Auch in Kroatien ist das Leben nicht leicht. Das Bier und das Essen kostet in Zagreb, genauso wie in Slowenien oder Ungarn, so viel wie in Deutschland. Und dass, obwohl die Gehälter in all diesen Ländern sehr viel geringer sind. Mit glänzenden Augen erzählt Rose von einem Besuch im Karlsruher Kaufhof, dass das Pärchen wegen der geringen Preise zu Hamsterkäufen motiviert hatte.

Es finden sich aber immer Wege zum Sparen. – Am Dienstagabend möchte ich ein Kammerkonzert in der Zagreber Konzerthalle sehen. Juraj hat dort mal gearbeitet und zeigt mir netterweise den Weg. Er lotst mich durch das Gebäude, kennt alle, plauscht mit den Garderobedamen, dem Ticketkontrolleur und dem Chef, stellt mich als „Kollegin“ vor, und ehe ich mich versehe, sitze ich auf dem wohl besten Platz auf dem nicht öffentlichen Balkon. Bezahlt habe ich nichts. Manchmal macht die Anarchie à la Balkan richtig Spaß.

Plitvice

Ach ja, bei den Plitvicer Seen waren wir auch noch... Ich denke, die Bilder sprechen für sich!

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Dienstag, 24. September 2013

Intermezzo aus dem Seminarraum

Die Dozentin erzählt etwas über Minderheiten in Pécs, aber ich bin anderweitig beschäftigt. Ich versuche, das Mädchen zu verstehen, das mir gegenübersitzt. Unentwegt wippt sie nervös mit den Knien auf und ab, und obwohl sie den Blick nie von ihrem Spiralblock löst, ist klar, dass sie mit äußerster Spannung den Worten der Dozentin lauscht. Bei jedem zweiten Satz zieht sie die Mundwinkel nach unten, so, als würde sie an einer Tasse Schwarztee nippen, die zu lange gezogen hat. Sie weiß ganz genau, dass die Frau Unrecht hat. Dass sie es besser weiß. Aber das will ihr niemand glauben. Sie ist wahrscheinlich die einzige im ganzen Seminar, die klar sieht. Alle anderen wollen es nicht wahrhaben.

„Bei der Volksbefragung haben ungefähr 300 000 Menschen angegeben, dass sie zur Minderheit der Roma gehören“, erläutert die Seminarleiterin. „Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge sind es fast doppelt so viele. Habt ihr eine Idee, woran das liegen könnte?“

„Vielleicht waren die Wissenschaftler nicht in den Romadörfern“ kommentiert das Mädchen und spendiert dazu ihr bitterstes Lachen. Dann sagt sie noch, wie zu sich selbst, aber laut genug, dass es jeder hört: „Es werden immer mehr und mehr und mehr. Das sieht man doch.“ Und die Seminarleiterin? Die lacht ebenfalls kurz unbeholfen über den Scherz und fährt fort.

In der Pause stellt sich Zsófia* uns Erasmusstudenten vor. Sie ist ein weltoffenes junges Mädchen, vielleicht 20 Jahre alt. Gerade lernt sie Russisch, Deutsch ist als nächstes dran. Im Anschluss an die Sympathiebekundungen für unsere Herkunftsländer meint sie, sich für die Inkompetenz der Dozentin entschuldigen zu müssen. „Die redet einen Haufen Mist. Dass die Probleme mit den Zigeunern sozial begründet sind. It´s just not true.“ Ich will gerade fragen, was denn dann der Auslöser für die schwierige Situation der Roma in Ungarn ist, doch Zsofia redet schon weiter. „Und was sie über Jobbik gesagt hat, stimmt auch nicht. Die sind gar nicht so extrem.“ Jobbik, ist das nicht die Partei, die das Territorium der Ungarischen Staates vor dem Vertag von Trianon 1920 zurückhaben will? Die gegen Ausländerhetzt und „antizionistische“ Großdemonstrationen veranstaltet? Die europafeindliche Parolen verbreitet und paramilitärische Versammlungen und Aufmärsche liebt? Diese Partei findet Zsófia ganz ok.

Da kommt die Dozentin zurück. Es geht jetzt um die Situation der Minderheiten im Sozialismus und in der Wendezeit. „In den 80er Jahren waren viele Roma in der Baubranche beschäftigt, aber sie bekamen sehr viel geringere Löhne als die ungarischen Arbeiter. Und in der Wirtschaftskrise, die auf die Wende folgte, wurden die Roma zuerst entlassen“. Zsófias Knie wippt immer schneller, ihr Kuli hinterlässt auf dem Spiralblock immer ausuferndere Spuren. Man kann sehen, dass sie kaum noch an sich halten, diesen Lügen länger zuhören kann. „Und deshalb ist die Arbeitslosigkeit heute das größte Problem der Romaminderheit“. „Aber das ist doch lange her!“ Der Damm ist gebrochen. Mit kaum gebremster Aggressivität fährt Zsófia die Seminarleiterin an. „Die wollen doch nicht arbeiten!“ Und obwohl ihr niemand einen Vorwurf gemacht hat, fügt sie noch hinzu: „Es ist nicht meine Schuld!!“

„Es ist nicht meine Schuld und nicht deine Schuld,“ versucht die Dozentin zu deeskalieren, „sondern es liegt an bestimmten politischen Fehlern, die..“ „It`s because they are genetically debased.“ Endlich hat Zsófia ausgesprochen, was sie die ganze Zeit sagen wollte. Sie sieht nicht mal hoch dabei, sie weiß ja, wie die Reaktion aussieht. Obwohl sie nicht sehr laut gesprochen hat, merkt sie, wie ihre Worte im Seminarraum nachhallen. Im Prinzip wissen doch alle, dass das die Wahrheit ist, aber natürlich traut sich niemand, ihr zu Hilfe zu eilen und zuzustimmen.

Well, that´s your opinion,“ sagt die Dozentin nach einer Weile. Und dann schnell weiter im Programm, damit nicht doch noch jemand auf diese offen rassistische Aussage reagiert.

Zsófia lehnt sich zurück, jetzt deutlich entspannter. Sie weiß, dass sie keinen Widerspruch zu befürchten hat. Was würde das auch bringen? Umfragen zufolge würde jeder dritte ungarische Student die rechtsradikale Partei Jobbik wählen.

* Name geändert

Montag, 23. September 2013

Balaton, Karneval, Fernsehturm

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Die neue Bibliothek, errichtet pünktlich für die Kulturhauptstadt 2013, topmodern!

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Ein Ausflug an den Balaton

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Stürmisch das Wetter und die Stimmung

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Oh, ein Weinfestival, auf dem gratis Wein ausgeschenkt wird!

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Egesegedre!

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Geburtstagsständchen in 6 Sprachen! *.*

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und dann kam die Sonne doch noch raus!

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Pécs City Karneval

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= Kostüme, Musik, Umzug, Sonnenschein, Besäufnis ab 12 Uhr morgens, Konzerte, mit Farbbeuteln schmeißen, Langos, Weinproben

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Insider! "Can you take a picture from us?" "Yeah, why not, you look funny."

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Nächster Kulturschock: Die Ungarn kennen Pippi Langstrumpf nicht!!

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TV Tower über Pécs

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in diesem Sinne:

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:D

Dienstag, 17. September 2013

Kulturschock auf Raten

Vignetten

#1
Wenn ich mich morgens auf den Weg zur Uni mache, muss ich mir erst mal meinen Weg durch den Berufsverkehr bahnen. Ein Riesenchaos auf den Straßen. Während ich auf eine Lücke im nicht abbrechen wollenden Autostrom warte, überlege ich, ob ich nicht doch einfach den Rat beherzigen sollte, den mir der Herbergsvater im Budapester Hostel mit auf den Weg gab. „Geh einfach los. Bloß keinen Blickkontakt suchen! Sonst denken die, du siehst sie ja, und dann halten sie nicht an.“ Ungarische Autofahrer sind anscheinend sehr aufmerksam, aber auch recht rabiat.

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Ungarischer Personennahverkehr :)

#2
Das Seminar ist zu Ende. Die Dozentin gibt die Lektüre für die nächste Sitzung an und wünscht allen einen schönen Tag, die ungarischen Studenten nicken freundlich, packen ihre Sachen zusammen und blicken verwundert auf die deutsche Austauschstudentin, die frenetisch mit der Faust auf den Tisch eindrischt. Was sie wohl damit bezwecken will?

#3
Ich habe in der Cafeteria wie immer ein Gericht gewählt, dessen Namen ich halbwegs aussprechen kann. Rein äußerlich betrachtet, sieht es aus wie Fleischklöße mit Tomatensoße. Von dem Geschmack bin sich so überrascht, dass ich schon geschluckt habe, bevor mir ein Laut der Verwunderung entfährt. Die Soße ist bapsüß! Schwimmen meine Frikadellen etwa in Pudding? Nein, den Tomatengeschmack kann ich auch herausfiltern. Offensichtlich wurden dem Gemisch aber einige Kilo Zucker zugefügt.

4#
Als ich den Installationstermin von dem Internetunternehmen sehe, bekomme ich fast einen Schlaganfall: 9.12. steht da. „Was, erst im Dezember soll ein Termin frei sein, um die lächerlichen Arbeiten zur Einrichtung unseres W-Lans für unsere Wohnung zu erledigen?!“ Doch zum Glück folgt gleich die Entwarnung: Gemeint ist der Mittwoch dieser Woche. Die Ungarn schrieben nämlich Tag und Monat in falscher Reihenfolge. Ein ähnliches Phänomen gibt es übrigens bei Namen: In bestimmten Situationen nennt man zuerst den Familien- und dann den Rufnamen. Ich hoffe, mein Vermieter nimmt es mir nicht übel, dass ich ihn lange mit Herr Ferenc adressiert habe, obwohl das eigentlich sein Vorname ist.

5#
Lange habe ich über das auffällige Verhalten der Ungarn in Aufzügen nachgedacht. Es ist völlig undenkbar, einen Lift zu betreten, ohne die Umstehenden höflich zu begrüßen. Ebenso förmlich verabschiedet man sich beim Verlassen der Kabine von seinen Mitfahrern. Eine mögliche Erklärung für dieses in Deutschland kaum anzutreffende Verhalten wäre, dass die Ungarn einfach ein sehr freundliches Volk sind. Sieht man sich zum Beispiel den Aufzug in unserer Platte etwas genauer an, drängt sich noch eine andere Deutung auf: Der Fahrstuhl mit seiner Holz-Schiebetür, die manuell geschlossen werden muss, bevor sich das Gefährt in Bewegung setzt, hat seinen eigenen Kopf. Mal geht während der Fahrt für ein paar Augenblicke das Licht aus. Mal hält er es nicht für angebracht, seine Fahrt zu vollenden, sodass man den letzten halben Meter mit einem beherzten Sprung überwinden muss. Mal überlegt er sich, auf das Drücken des Anfrageknopfes lieber nicht zu reagieren sondern regungslos in dem Stockwerk zu verharren, in dem er sich gerade befindet. Ergo: Die Fahrstuhlinsassen sind nicht ein zufällig zusammengewürfelter Haufen, nein! Sie sind eine Schicksalsgemeinschaft auf einer Reise mit ungewissem Ausgang! Man stelle sich vor, der Aufzug bliebe tatsächlich und endgültig stecken und man müsste seine letzten 72 Stunden mit einer Gruppe Menschen verbringen, die man noch nicht mal anständig begrüßt hat. Fatal! Die Verabschiedung derjenigen Glücklichen, die ihr Ziel unbeschadet erreicht haben, ist eine Art Solidaritätsbekundung: Man wünscht den Weggefährten einen ebenso erfolgreichen Abschluss der Fahrt. Außerdem kann man sich ja nie sicher sein, ob man seinen Nachbarn je wieder begegnet… Da ist ein Lebewohl ja wohl angebracht. Wieder ein Rätsel gelöst! (PS: Was, ich könnte ja auch laufen statt den Aufzug zu benutzen? Hallo?! Ich wohne im 5. Stock!)

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