Freitag, 15. November 2013

"Zwei vollständige Identitäten" - Interview mit Stefan Szeitz

Stefan Szeitz, 27, ist seit 2011 Geschäftsführer des Lenau-Hauses in Pécs. Träger ist der 1985 gegründete Lenau-Verein, der größte deutsche Kulturverein in Ungarn. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, „der deutschen Minderheit bei der Wiedergewinnung und Bewahrung ihrer kulturellen Identität helfen, ihre Traditionspflege unterstützen und ihre eigene Geschichte bewusst zu machen“, so die Homepage der Institution. Das Haus beherbergt auch eine deutsche Bibliothek sowie Gästezimmer.

Sehr interessant und ungewohnt war für mich, die Bewertung von Sachverhalten aus ungarndeutscher Perspektive zu hören, z.B. in Bezug auf Folklore oder historischer Vorgänge. Wenngleich ich nicht jede Einschätzung bedenkenlos übernehmen würde.

Eine allgemeine Frage zu Eingang: Die deutsche Minderheit in Ungarn hat ja eine jahrhundertelange Geschichte. Was ist eigentlich das kennzeichnende für diese Gruppe, wo liegen Unterschiede zur ungarischen Bevölkerungsmehrheit?
Die Ungarndeutschen sind keine homogene Gruppe. Sie wurden aus unterschiedlichen Gebieten angesiedelt. Da gibt es die Katholiken, es gibt auch eine relativ große protestantische Gruppe, die meisten sind Süd- und Mitteldeutsch. Früher waren sie hauptsächlich in der Landwirtschaft tätig, das hat sich mittlerweile natürlich geändert. Was bleibt, ist, dass die meisten Deutschen auf dem Land leben, in Dörfern. Außerdem sind die meisten Winzer Ungarndeutsch.
In der Stadt, auch hier in Pécs, gibt es eigentlich kein verbindendes Element. Die meisten, die in Pécs leben sind eingewandert von den Dörfern. Aber sie betreiben eine große Palette von Gewerkschaften. Von Architekten bis zu Universitätsprofessoren ist alles vertreten. Es sind unter ihnen auch überdurchschnittlich viele mit einer hohen Ausbildung. Die Ungarndeutschen waren früher und sind auch jetzt gut ausgebildet. Die meisten besitzen ein Diplom oder mindestens ein Abitur.

Das Lenau-Haus hat ja unter anderem die Aufgabe, in dieser heterogenen Gruppe ein Gemeinschaftsgefühl zu stiften. Was ist Ihre Erfahrung, gibt es trotz der Unterschiedlichkeit einen Zusammenhalt unter den Deutschen?
Ja, schon. Alle verstehen sich als Ungarndeutsche hier. Sie grenzen sich nicht voneinander ab, wenn einer zum Beispiel aus Böhmen kam, einer aus Bayern und einer ist ein „Schwob“. Alle Ungarndeutschen verstehen Ungarn natürlich auch als ihre Heimat. Jeder Ungarndeutsche ist auch ein Ungar. Wir sind keine Bundesdeutschen, wir sind Ungarische Staatsbürger, aber wir haben gemeinsame Deutsche Wurzeln. Wir haben auch eine Landesselbstverwaltung der Deutschen, das verbindet natürlich auch.

Eine wichtige Rolle für die Identität der Minderheit spielt sicher die Sprache. In welchen Situationen wird Deutsch gesprochen und gelernt?
Das ist ganz unterschiedlich. Heutzutage wird die Sprache eher selten als Muttersprache erlernt. Man könnte auch sagen, das ist für sie eine Zweitsprache oder eine neu erlernte Sprache. Bei den Älteren, die unmittelbar vor oder nach dem 2. Weltkrieg geboren sind, wurde Deutsch noch als Muttersprache erlernt. In der sozialistischen Ära war das Deutschtum nicht so angesehen, da hatte man Angst, dem Kind die deutsche Kultur und Sprache beizubringen. Heute kann man aber noch eine neune Tendenz finden, dass man viele, die ungarndeutscher Herkunft sind, dem Kind deutsche Namen geben und von klein an die Sprache beibringen. Die Tendenz ist also steigend.

Wie ist das eigentlich mit der Jugend? Gibt es ein Nachwuchsproblem?
In den Städten ist es tatsächlich schwer, junge Leute für Minderheitenprogramme oder Minderheitenangelegenheiten zu begeistern. In einer kleinen Gemeinde ist es viel einfacher. Wo zwischen 500 und 1000 Einwohner leben, da gibt es nicht so viele Möglichkeiten sich zu bilden oder für Freizeitangebote. Da entschließen sich die Jugendlichen eher für eine Blaskapelle oder auch für eine Tanzgruppe, für einen Verein. Da sind die Jugendlichen viel aktiver im Minderheitenleben dabei als in der Stadt, wo die Konkurrenz sehr groß ist. Ich versuche natürlich, Programme und Aktivitäten anzubieten, die für die Jugendliche interessant sein können, zum Beispiel den Filmclub. Jetzt wollen wir die Angebote auch ein bisschen erweitern. Wir wollen mehr Workshops oder Veranstaltungen organisieren, die Anknüpfungspunkte zur deutschen Kultur und zur Kultur der Ungarndeutschen haben und gleichzeitig Jugendliche ansprechen, die sozusagen trendy oder sexy sind.

Wir haben mit der Seminargruppe eine Kunstvernissage in Ihrem Haus besucht. das Rahmenprogramm bestand hauptsächlich aus Folklore– Trachten und traditionelle Musik und Gesang. Welche Funktion übernimmt die Traditionspflege für die Gemeinschaft?
Eigentlich kann man sich mit der Tradition ganz gut von der Mehrheit abgrenzen. Damit können wir dann die gemeinsamen Wurzeln, die kulturelle Zusammengehörigkeit auch visuell transportieren. Und das gibt natürlich ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Im Dorf ist diese Tradition auch noch heute sehr lebendig.

Hat das Lenau-Haus auch Angebote, um diese Tradition zu vermitteln?
Wir wollen immer so was anbieten, was es nicht gibt. Tänze, Blasmusik, das kann man in vielen Orten erlernen. Auch in Pécs gibt es eine traditionelle Tanzgruppe und Blaskapellen an verschiedenen Schulen. Wo das eigentlich schon gut läuft, wollen wir uns nicht einmischen.

Das interessante an dieser Tradition ist ja auch, dass sie in Deutschland im Begriff ist, völlig verloren zu gehen. Bräuche und Folklore gelten als extrem „unsexy“ und werden an vielen Orten überhaupt nicht mehr gepflegt. Warum ist das hier anders?
Das liegt vielleicht schon an dem Minderheitenstatus. Es hat auch eine gewisse Abgrenzungsfunktion, die Tradition zu pflegen. Wobei man sich natürlich nicht von der Mehrheit abgrenzen will, man will damit vielmehr etwas Zusätzliches bekommen. Hier hat die Brauchtumspflege ein relativ hohes Ansehen, sowohl bei den Älteren als bei den Jugendlichen. Natürlich nicht bei allen. Das kommt auch auf das persönliche Interesse an.

Somit können Sie aber nicht für sich beanspruchen, „die“ authentische deutsche Kultur zu vermitteln. Sondern Ihre eigene, autonome ungarndeutsche Kultur.
Ja, die ganze Kultur hat sich mit den Jahren abgegrenzt von Deutschland. Das ist ganz interessant, denn aus Deutschland kommen auch immer Sprachforscher, die dann die alten deutschen Dialekte hier in Ungarn finden oder in Rumänien.

Dann lassen Sie uns jetzt ein wenig über den Bezug zum aktuellen Deutschland sprechen.
Wir sehen es natürlich auch als unsere Aufgabe an, die moderne deutsche Kultur zu vermitteln und zu pflegen und im Ausland zu präsentieren. Wir laden Künstler, Musiker, Autoren aus der Bundesrepublik Deutschland ein, damit sie ihre aktuelle Kunst auch hier zeigen können. Den Ungarndeutschen und natürlich auch den Ungarn, da wollen wir uns nicht auf eine Zielgruppe begrenzen. Sondern jeder, der Interesse für die deutsche Kultur hat, kann dabei mitmachen. Eigentlich muss man nur die Sprache sprechen, da die meisten Veranstaltungen bei uns nur auf Deutsch laufen.

Was für Kontakte haben sie als Institution nach Deutschland?
Wir haben einen lebendigen Kontakt mit Deutschland. Nicht nur mit dem Goethe-Institut, sondern auch mit der Robert-Bosch-Stiftung und auch mit dem Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart. Und natürlich noch mit anderen Vereinen und mit unserer Partnerstadt Fellbach.

Sie stammen aus einer Ungarndeutschen Familie. Bleibt man da über Nachrichten, Kultur und Politik in Deutschland auf dem Laufenden? Werden die deutschen Medien verfolgt?
Ja, schon. Die Ungarndeutschen identifizieren sich mit der Sprachgemeinschaft der Deutschen, Die deutschen Medien werden verfolgt, das geht relativ leicht. Deutsche Presse und deutsches Fernsehen ist hier recht einfach zugänglich.

Hat die Minderheit auch eigene Presseorgane?
Es gibt zwei größere Zeitungen, die landeweit verteilt werden: Einmal die neue Zeitung, das ist ein Wochenblatt, und ein Sonntagsblatt. Das ist viel kritischer, ein bisschen größerem Rahmen, aber es erscheint zwei-dreimal im Monat.

Welche Rolle spielt die Minderheit in den Deutsch-Ungarischen Beziehungen? Äußert man sich auch kritisch zur aktuellen politischen Lage in Ungarn?
Also, wir als Lenau-Haus gehen auf politische Gegebenheiten nicht gerne ein. Das hat auch keinen Sinn. Dafür gibt es die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen, das ist so eine halbpolitische Institution, die Interessenvertretung der Ungarndeutschen und die spielt auch als Vermittler zwischen Deutschland und Ungarn eine gewisse Rolle. Bei der politischen Diskussion beziehen wir uns nur auf die Fragen, die die Minderheit betreffen. Da äußern wir uns und da haben wir auch eine Meinung. Aber in landesweite politische Angelegenheiten wollen wir uns nicht einmischen.

Und wie sieht das Zusammenleben der Deutschen und Ungarn auf persönlicher Ebene aus? Wird man als Deutscher noch bisweilen mit Vorurteilen konfrontiert, was die Geschichte anbelangt?
Ich glaube nicht. Es gab die paar Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg, wo die Kollektivschuld den Deutschen zugesprochen wurde, damals hatte man ein bisschen Angst, sich zum Deutschtum zu bekennen. Aber wie ich das so gehört habe, war das in der Bevölkerung nicht so ein ernsthaftes Thema, eher auf politischer Ebene. In den Dörfern waren eigentlich keine ethnischen Probleme zu erkennen. Die Deutschen lebten auch früher schon nicht nur mit den Ungarn, sondern auch mit den Slaven zusammen, in Braunau gibt es viele Serben und Kroaten und auch viele weitere Minderheiten. Und es gab nie eine Konfrontation zwischen den Deutschen und anderen Nationalitäten Die konnten relativ gut nebeneinander leben. Es gab natürlich vereinzelt Konflikte, aber dann eher auf persönlicher Ebene und nicht wegen der Nationalitätenangehörigkeit.

Jetzt sind in der Zeit während und nach dem zweiten Weltkrieg auf beiden Seiten Verletzungen geschehen. Gibt es da eine Aufarbeitung?
Ja, natürlich. Es war ein großer Schritt von der politischen Elite voriges Jahr, als sie sich im Parlament bei den Ungarndeutschen entschuldigt haben für die Aussiedlung nach dem zweiten Weltkrieg. Es wurde auch ein Gedenktag für die Aussiedlung nach dem 2. WK eingeführt. Der soll dann jedes Jahr neu organisiert werden, ähnlich wie für den Holocaust. Damals war es gar nicht so unterschiedlich, wie das Ganze ablief. Die Juden wurden 43/44 deportiert. Und zwei Jahre später wurden die Deutschen ausgesiedelt, mit denselben Zügen, mit denselben Waggons, dieselbe Methode. Das war bis zur Wende so ein Tabu-Thema, worüber man nicht gesprochen hat. Nach der Wende waren mehrere Konferenzen, die ganze Diskussion fing eigentlich auf der wissenschaftlichen Seite an. Historiker und Politiker haben dann angefangen, darüber zu sprechen, und inzwischen ist es dazu gekommen, dass man mit den historischen Ereignissen konfrontiert wird uns sich das anschaut. Das ist sehr positiv.

Mir und vielen anderen Bundesdeutschen ist der Gedanke fremd, die eigene Identität so stark an eine Nationalität zu knüpfen, wie das bei den deutschen Minderheiten im Ausland der Fall ist. Was hat man eigentlich davon, was gibt Ihnen das?
Das ist ein Mehrwert, den man dadurch erzielt. Man gehört nicht nur zum Ungarntum, sondern auch zum Deutschtum, hat die deutsche Kultur. Das sind zwei vollständige Leben und Identitäten die man vereinen kann, und nicht nur eine. Das wird zu einer Selbstverständlichkeit. das führt auch nicht zu Rollenkonflikten oder Fragezeichen, wer ich eigentlich bin.
aj.erle - 19. Nov, 18:33

WSchwimmen

ein Chapeau der Interviewerin für Ihre professionellen Fragen an den Vertreter der Ungarndeutschen in Pécz. Da kam er dann aber leider ins Schwimmen, was sich so ergab, sicher nicht beabsichtigt war. Es war hoffentlich zum Schluss kein Outing, nur ein Mißverständnis, die unfassbare Relativierung des Holocaust! Als Vertriebener weiß ich, wovon die Rede ist. Keine Werbung für die binationale Identität!

aj.e aus MD, 19. November 2013

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