Sonntag, 10. November 2013

Unterwegs im Osten II

Es waren Herbstferien und ich war unterwegs. 1 1/2 Wochen, 3 Länder, 6 Städte, 7 unglaubliche Gastgeber, 12 Zug- und Autofahrten, unzählige Begegnungen und Geschichten... Ich bin überfordert. Daher hier nur ein paar Blitzlichter. Ungeordnet, unkommentiert, eher weniger als mehr durchdacht und durcharbeitet.
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Orte, Menschen, Dinge

Ort: Minarett, knézich Karoly utca, Eger

Muezzins haben es nicht leicht. Fünfmal täglich müssen sie über den Dächern der Stadt die Gebetszeit ankündigen. Und so ein Minarett ist verdammt eng und verdammt hoch. Zumal, wenn es aus dem 17. Jahrhundert stammt wie das in Eger. Das ist heute das nördlichste osmanische Gebäude überhaupt. Und eines der wenigen Erinnerungen daran, dass die Osmanen fast 150 Jahre lang hier waren.
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Die Stadt Eger spielt eine besondere Rolle in dieser Episode ungarischer Geschichte: 1552 konnten die tapferen Egerer die Festung mit einer kleinen Truppe und viel Heldenmut noch vor einer türkischen Übermacht verteidigen – Stoff für einen der beliebtesten ungarischen Romane überhaupt, den Historienschinken „Sterne von Eger“. Vierzig Jahre später hat man die Burg dann doch den Türken überlassen, die aus Dankbarkeit für den überwältigenden Sieg eine Moschee nebst besagtem Minarett erbauen ließen. Die Moschee steht schon längst nicht mehr, der schmale, puritanische Turm steht etwas verloren zwischen den prächtigen barocken und klassizistischen Palais in der Egerer Altstadt.
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Es ist eine Art begehbare Zeitreise. Unbeleuchtet und so eng, dass man zugleich Kopf und Bauch einziehen will, während man sich nach oben schraubt. Und wenn man endlich wieder in Luft und Licht tritt, liegt einem tatsächlich ein Dankesgebet auf den Lippen.
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Ort: Staniče námestie 1, Košice

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Wir stehen vor dem Košicer Hauptbahnof und wollen gerade am Automaten ein paar Bustickets lösen, als wir plötzlich von einer Horde Romakinder umzingelt sind. Mit großen Augen und ausgestreckten Händen drängen sie sich an uns und wiederholen dabei immer wieder dieselben Worte: Money money please, money money please...“ Als die erwünschte Reaktion ausbleibt, erhöhen sie die Frequenz, steigern sich in einen weinerlichen Singsang, der Wunsch, das Gezeter mit einer milden Gabe schnell zu beenden wird von einem sich anbahnenden leichten Kopfschmerz befördert. Als der Automat das Wechselgeld herausgibt, verliert die Rasselband gleich das Interesse an uns. Da zucken die unglaublich schmutzigen Hände in Richtung Schlitz. Um nach Misserfolg gleich wieder mit dem betteln und bitten fortzufahren.

Ort: Spišské podhardie, 10:23

Wir wollen zur Zipser Burg wandern. Allein: Von Burg keine Spur. Auch der zugehörige Berg ist noch von dichtem Nebel verschluckt. Wir schlagen einen Weg ein, und nach ein paar Momenten ist auch das Dorf, aus dem wirr kamen, im Nebel verschwunden. Wir stecken fest irgendwo Nichts und Nichts und laufen ist Ungewisse... In den Spinnennetzen auf dem abgeernteten Feld glitzern die Tautropfen. Da plötzlich, tauchen die Gemäuer einer mächtigen Festung vor uns auf. Die Konturen zeichnen sich durch die Nebelschwaden ab wie durch Transparentpapier, gespenstisch und schön zugleich. Kant hätte diesen Anblick wohl in die Kategorie des „Erhabenen“ eingeordnet...
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Wenig später haben wir die Wolkendecke durchbrochen und sehen außer der Zippser Burg nur noch die umgebenden Berggipfel. Von den Mauern der Festung aus beobachten wir, wie sich die Schleier langsam aus dem Tal zurückziehen und der strahlende Oktobertag sich über die Landschaft ergießt.
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Menschen: Heike (59) und Klaus (62), Angestellte aus Eisenstadt

Heike und Klaus sind ein gemütliches Ehepaar kurz vor Eintritt ins Rentenalter. Und sie haben eine Leidenschaft: Vögel beobachten. Klingt nach einem angemessenen Hobby für diese Altersklasse; wir sind zunächst skeptisch. „Ich bin gerade in meiner Kranich-Phase“, sagt Heike lachend, als handle es sich um ein Krankheitsbild. Und ein bisschen Wahnsinn steckt schon dahinter. Voll Begeisterung erzählen uns die beiden, dass die nur wegen der Kraniche eine Woche Urlaub genommen haben. Die majestätischen Vögel kommen aus Finnland und wechseln alle paar Jahre aus unbekannten Gründen ihre Reiseroute. Seit ein paar Jahren verbringen sie die Zeit bis zum ersten Frost hier, in der Puszta.
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„Puszta“ bedeutet Leere und das ist auch ziemlich zutreffend. In dem ganzen weltberühmten Nationalpark gibt es ungefähr einen Ort, der mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar ist. Deshalb haben wir uns bei den sympathischen Österreichern eingemietet, die im Auto, ausgestattet mit Fernglas und Kamerastativ das Gelände durchstreifen. Dabei erzählen sie vom eindringlichen Gesang und wunderschönen Formationsflug jener Tiere, die Poeten wie Schiller und Brecht zu herrlichen Gedichten inspirierten. Langsam wächst unsere Neugierde und beginnen die beiden Experten auszufragen. Die geben bereitwillig Auskunft und wir erfahren unter anderem, dass schon die Griechen aus dem Flug der Kraniche die Zukunft vorauszusagen versuchten. Inzwischen sind wir am Endpunkt unserer Exkursion angelangt, einem Aussichtsturm inmitten einem riesigen Fischteich-Areal. Die Dunkelheit legt sich schon über die Landschaft, am Horizont verabschiedet sich der Tag mit einem Finale in rosa und orange. Und noch während wir die letzten Stufen zur Aussichtsplattform erklimmen, ziehen plötzlich die Kraniche über unsere Köpfe zu ihrem Schlafplatz in den Teichen. Der Strom will nicht abbrechen – es müssen zehntausende sein. In eleganten Linien, fein geschwungenen Böden, wie auf ziseliertem Metall, malen sie immer neue Muster in den abendroten Himmel. Was das wohl für unsere Zukunft zu bedeuten hat?
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Ort: Neon City Garden, Kassai út 7, Debrecen

Ein Klub, wie er ungarischer nicht sein könnte: Die Wände sind ganz in den Nationalfarben gestrichen. Dazwischen die Portraits der Aushängeschilder der Nation: Der Hunnenkrieger Attila, Dichter Sandor Petöfi und auch der Rubicube, eines der größten Geschenke der Ungarn an die Welt, sind hier zu finden. Ein deutscher Pub im schwarz-rot-goldenen Look, mit König Barbarossa, Heinrich Heine und dem VW Golf an den Wänden? Schwer vorzustellen. Die Einstellung der Ungarn ihrer Nation gegenüber ist schon eigenartig. Auf jeden Fall ist sie Gegenstand ständiger Auseinandersetzung. „Dabei schlägt das Pendel zwischen Selbstüberschätzung, Selbstmitleid und Minderwertigkeitskomplexen wild hin und her“, diagnostiziert meine „Gebrauchsanweisung für Budapest und Ungarn“. Auf jeden Fall ist ihnen daran gelegen, sich nach außen gut zu präsentieren. Unser Gastgeber in Debrecen, Duke, hat uns zur Geburtstagsfeier seines Kollegen mitgenommen und wir haben schon seit drei Stunden kein Getränk bezahlt. Das Geburtstagskind wird nämlich auch bald Vater und ist in Spendierlaune. Dann aber wieder diese Selbstbeschimpfungen. „Debrecen is nothing special“, sagt Csaba. „The Puszta is very dull“ sagt Réka. „Hungarians are very depressed“ sagt Balázs. Egal, wo und gegen wen sie gekämpft hätten: Immer haben sie verloren. „Es gibt keinen Grund, als Ungar stolz auf die Geschichte seines Landes zu sein“. „Da haben wir ja schon was gemeinsam“ sage ich. Das bringt Balázs zum Lachen und wir trinken auf die deutsch-ungarische Brüderschaft.

Ding: Sandy, Dacia Sandero, 41 000 km, 7,6l/100 km

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Sandy stöhnt. Als kleiner, weniger Stadtwagen wird sie in der Werbung angepriesen. Als flinker Straßensprinter. Die Federung und der Hubraum hingegen lassen zu wünschen übrig. Für das hier ist sie nicht gemacht: Das war schon das fünfte Schlagloch innerhalb weniger Sekunden! Sandy zittert und bebt. Der Untergrund scheint immer holpriger, die Löcher immer tiefer zu werden, es geht kaum voran und rückwärts erst recht nicht. Auf der Karte, die die beiden Insassinnen vom Apuseni Nationalpark in Transsylvanien gekauft hat, gibt es drei Arten von Straßen: gelbe, weiße und schwarze. Die Farbgestaltung scheint aber wohl ausschließlich anhand ästhetischer Überlegungen erfolgt zu sein. Einen Informationsgehalt jedenfalls vermittelt sie nicht. Eher im Gegenteil. Man könnte nämlich leicht auf den Gedanken kommen, die verschlungenen Linien auf dem Papier würden tatsächlich den Verlauf von Straßen anzeigen. Nun ist „Straße“ zwar ein dehnbarer Begriff, vor allem in Rumänien. Aber diese Mischung aus Waldweg, Schlammgrube und Schotterpiste hat diesen Namen nicht und niemals verdient.
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Vor uns und hinter uns quälen sich die Jeeps durch Täler und über Pässe, die Fahrerblicken mitleidig in das etwas verlorene kleine Auto. Aber Sandy macht tapfer weiter. Hätte man dem Mädchen gar nicht zugetraut, dass sie so wenig zimperlich ist. Der schöne rote Lack ist unter dem ganzen Staub und Schlamm schon gar nicht mehr zu erkennen. Warum die beiden Abenteurerinnen sich und Sandy das trotzdem antun? Seht selbst:
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Ort: Orthodoxe Kathedrale, Bulevardul Regele Ferdinand, Timisoara

Was zuerst auffällt, ist diese Geschäftigkeit, die man aus katholischen und evangelischen Kirchen so gar nicht kennt. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Hausfrauen mit Einkaufstüten, Checker mit tiefsitzenden Hosen, Studentinnen mit Trenchcoat und Stöckelschuhen – sie alle suchen diesen Ort auf, mitten am Tag, in der Mittagspause, kurz nach Feierabend... Und dann laufen sie auf dem roten Teppich bis zur Mitte des Raumes, wo drei Ikonen auf kleinen Holzpulten stehen. Sie bekreuzigen sich, viele verbeugen sich auch bis zum Boden, dann küssen sie die Heiligenbilder. Noch ein Kreuzzeichen, noch einmal tief durchatmen, und dann geht’s wieder in die wilde Welt da draußen. Dass die Kirche trotz der hohen Fluktuation nicht hektisch wirkt, liegt wohl an dem schweren Ernst, den der Raum ausstrahlt. Es fällt kaum Licht durch die wenigen Fenster, die Wände und Decken sind mit viel Gold und dunklen Farben überzogen. Ein Gottesdienst ist im Gange, einige Geistliche stehen in der geöffneten Ikonenwand und vollführen ihren meditativen Singsang. Die Zeremonie scheint nicht so wichtig zu sein, die Menschen nehmen kaum Notiz davon. Sie kommen und gehen einfach, wie es in ihren Tagesablauf passt. Ein lebendiger Ort und zugleich einer, der ein Fenster für Ruhe und Reflektion in den Alltag schlägt. Der ganz selbstverständlich Raum für Spiritualität schafft. Schön eigentlich.
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Mensch: Gyuri, 29, Wirtschaftswissenschaftler aus Szeged

Gyuri ist ein bisschen typisch ungarisch: Eigentlich ist er total freundlich, man merkt es nur nicht gleich. Gyuri ist zuvorkommend, hilfsbereit, aber dabei auch sehr pragmatisch. Er macht nicht gerne viele Worte, kommt gerne schnell zum Punkt. Wenn er einem etwas anbietet, klingt das fast wie ein Befehl. Er ist halt Wissenschaftler. Sentimentalität ist nichtzielführend. Vor allem in der Betriebswirtschaftslehre. Man ist schnell damit fertig, Gyuri in eine Schublade einzuordnen.
Doch dann übersieht man, was Gyuri wirklich ist. Und zwar ein Idealist. Er beschäftigt sich nämlich nicht mit Börsen, Banken und Renditen. Sondern mit Armut. Und das bedeutet in Ungarn oft: Mit Roma. Auf die Frage nach seinen wissenschaftlichen Methoden knallt es nur wortlos eine Ausgabe „Action Research“ auf den Tisch. Und erläutert dann nur knapp, dass für ihn die wissenschaftliche Untersuchung immer Maßnahmen nach sich ziehen sollte. Nicht nur, weil man dann einen Schlüsse und Diagnosen gleich selbst verifizieren kann. Sondern weil Erkenntnis Verantwortung mit sich bringt. Seine Arbeit hat die Aufgabe, die Situation der Menschen, seiner „Untersuchungsobjekte“, zu verbessern. Ganz einfach.
Man wird von Gyuri keine einzige pauschale Bemerkung über Roma hören, keine Schuldzuweisungen, keine politischen Appelle. Seine Lösungsweg: Individuell zugeschnittene Programme, die auf die Situation vor Ort eingehen. Deshalb baut er mit seiner Freundin gerade eine Nachmittagsschule für Romakinder auf. Die beiden stecken unheimlich viel Kraft und Zeit in die Verbreitung der Idee. Gyuri und seine Freundin sind Menschen mit einer Leidenschaft. Auch wenn man es ihnen nicht sofort anmerkt.
aj.erle - 20. Nov, 10:26

Fußstapfen, alt aber nicht antiquiert

Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll, Ihren Fahrtendrang , ihre Menschenbeschreibungng oder Ihren Schreibstil !!!
Die Zipser Burg, ein Historienfilm aus der Realität. Nichts Totes, schon gar nicht aus dem Nebel sich entwickelnd. Schön haben Sie beschrieben, was ich vor ca. 35 Jahren als einsamer Wanderer aufgeregt wahrgenommen habe! Dazu noch Levoca mit Meister Paul, die Henkel von Donnersmark und die weiße Frau!
Der Abschluss mit Gyuri und Frau ist sagt etwas über Zukunft und Leben, solche jedenfalls vermitteln sie, an die Roma-Kinder und an uns.
Es gibt hoffentlich noch mehr von Ihnen? Wir schicken einen Schutzengel!

aj.e aus MD

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