Freitag, 20. Dezember 2013

Violet

Es ist sehr früh. Der erste Morgen des Jahres an dem ich vor der Sonne aufstehe und ich fühle mich etwas verloren, als ich vor dem Bremer Stadtamt ankomme.

Vor mir versucht eine dunkelhäutige Dame mit ihrem Kinderwagen durch die Drehtür ins wärmende Innere des Gebäudes zu gelangen. Oder besser gesagt – Sie versucht es eigentlich nicht (ich erwarte das aber von ihr in diesem Moment), sondern brüllt ihre beiden Kinder an, die ihren Spaß an den drehenden Scheiben haben und sie wild hin- und her bewegen. Sie schreit so markterschütternd-laut, dass einige Leute hinter mir in Deckung gehen und skeptisch abwarten. Ich bin in diesem Moment mit einer dunkelhäutigen, schwangeren Dame verabredet und schaue mich ausgiebig nach einem alternativen Menschen um der auf die diese Beschreibung passen könnte. Mein Telefon klingelt kurze Zeit später und ich sehe die Dame mit dem Kinderwagen am Seiteneingang mit einem Mobilgerät am Ohr. Also schlender ich zu ihr, sage hallo und wir fahren mit ihren sympathischen Kindern und einer türkischen Familie in den zweiten Stock.

Einige Menschen sitzen dort in diesem gigantischen Wartesaal, ganz vorne steht eine Art Rednerpult mit Laptop hinter dem ein dunkelhäutiger Mann stramm wie eine Statue steht und Wartenummer verteilt. Wir haben allerdings einen Termin und werden als Allererste ins Wartezimmer gebeten. Dort erwarten uns schon zwei Nachwuchsbeamten, der eine mit einem süffisanten Lächeln, dass er manchmal zu einem Halbkreis ausweitet, aber niemals aufgibt und seine Kollegin mit dem Ausdruck einer braven Schülerin, die in der ersten Reihe sitzt und stets die richtige Antwort parat hat. Als wir sitzen und die Befragung los geht, schläft der Junge sofort wild schnarchend ein und das Mädchen bewirft mich mit Zettelwerk, das auf dem Schreibtisch rumliegt. Ich muss an den Film „Captain Philips“ denken und dass es an diesem Punkt der Geschichte, an diesem Ort mit der Konstellation von Menschen nichts mehr zu gewinnen gibt. Es geht nur noch um Schadensbegrenzung und ich bin froh, dass die Frau das Bürokratendeutsch nicht versteht mit so empathischen Wörter wie „umverteilt“ und „abschieben“. Kurz spreche ich mit ihr darüber, dass sie sich vielleicht schon nächste Woche in Bayern wiederfinden wird und dann prusten wir beide los. Am Ende steht dann die einwöchige Frist bis zu der Violet den Vater ihres Kindes und ein Dokument mit der Vaterschaftsanerkennung vorlegen muss, sonst hat sie wenig Einfluss darauf wo es als nächstes hingeht.

Danach sitzen wir wieder im Wartezimmer und warten bis die Langeweile in einem hochsteigt um sich mit den müden Gliedern zu vereinen um einem gehörig die Laune zu versauen. Also renn ich noch mal rein und die zwei Beamten sitzen da noch immer und tun irgendwas. Sie bitten mich um etwas Geduld und etwa eine halbe Stunde später kommen wir noch mal rein um drei Dokumente zu unterschreiben. Obwohl das alles ziemlich traurig ist, findet es Violet eigentlich ganz okay und hat auch nicht vor sich der Bürokratiewillkür zu beugen. Und wie absurd es eigentlich ist dass sich die meisten immigrierten Frauen aus Nordafrika von Deutschen schwängern lassen um hier bleiben zu können.

Ich trage das schlafende Kind durch die langen Gänge und lasse es nieder und mache mich fort in mein Leben in dem die Widerstände meist greifbarer und besiegbarer wirken als hier an diesem Ort.

Sonntag, 15. Dezember 2013

Arbeitsallerlei

Gesichter kneten
die Monotonie treten
Abgeschlafftheit
wenig g'scheid
heiter weiter
sind die Wörter
grundlegend verlegen
fröhlich schimmernd
durch die Poren
noch ist nichts verloren.
Digga.

LF

Freitag, 17. Februar 2012

Strange...king

Das Fenster ein Begriff der nur als abstrakte Konstruktion existiert
Die Musik Konzentration zugleich Zerstreuung
Die Gedanken ein undurchsichtiges Medium mit Kotflecken
Die Ferne surreal abstrakt gleich nach Fenster wenn da dann hinter Fenster
Die Freunde schon gegangen nicht mehr da
Die Eltern die Schwestern was sie wohl grad machen
Die Gedanken schmutzig wie lange nicht liegt das an den Kotflecken
Die Gespräche wo sind sie hin
Der Eindruck Dinge und Aussagen wiederholen sich ständig
wiederholen sich
wiederholen
wieder holen
Die Interpunktion fehlt
wieder holen
Die Interpunktion, unnötiges! Ding hindert Gedanken?

Strange and unproductive thinking

Das Fenster, ein undurchsichtiges Medium mit Kotflecken.
Die Musik, ein zweiter Herzschlag in müden Zeiten.
Die Gedanken, Hindernisse beim Wunsch nach Konzentration.
Die Ferne, ein Begriff der nur als abstrakte Konstruktion existiert.
Die Freunde, zu lange nicht mehr gesehen.
Die Eltern, die Schwestern, am Meer.
Die Gedanken, leer.
Die Gespräche, leerer.
Der Eindruck, Dinge und Aussagen wiederholen sich ständig.
Die Inspiration, sie fehlt.

LF

Freitag, 18. November 2011

Welten

Das Erste was mir bei der Rückkehr aus der Schweiz nach Bremen aufgefallen ist: Der Fahrradweg liegt direkt neben dem Fußgängerweg (quasi wie ein kleiner Zwillings-Fußgängerweg) und man fährt automatisch die ganze Zeit Slalom um die verirrten Fußgänger, die dem Fahrradweg wenig Beachtung schenken nicht zu verletzen. Das Zweite, Offensichtlichere waren die Arbeitslosen, die den ganzen Tag direkt vor meiner Haustür am Kiosk rumhängen. Sie klopfen Sprüche (wenn sie in Gesellschaft sind), die meinen Vater alt aussehen lassen würden oder starren apathisch in eine weitentfernte Leere (wenn sie allein sind), die spannende Fragen nach den aktuellen Gedanken der Leute aufwirft. Ich kann mich nicht daran erinnern in meiner gesamten Zeit in Basel Menschen dieses Schlags gesehen zu haben. Am stärksten sind mir aus Basel die Begegnungen mit Deutschen in Erinnerung geblieben, die sich ausführlich über die Schweizer beschweren und darüber wie stark sie die Spießigkeit in der Schweiz aufregt. Meistens waren es Details, die ich kaum ernst diskutieren konnte bzw. wollte. Verwundert bin ich auch immer über die Feststellung, dass fast jeder zweite nach Basel Zugezogene bei der Frage, was ihm/ihr in Basel am besten gefällt zu allererst auf die exzellente Lage Basels in Europa hinweist und dass man schnell überall hinfahren kann („Letztes Wochenende sind wir ganz angenehm in 4 Stunden mit dem Zug nach Paris gefahren und nächste Woche fliegen wir nach New York. Man muss ja die Stärke des Schweizer Frankens ausnützen“). Ganz wenige scheinen glücklich zu sein in solch einer beeindruckenden, weil abwechslungsreichen, fast immer warmen und malerisch am Rhein gelegenen Stadt zu leben.

Für mich persönlich bedeutet das Leben in Basel eine Existenz in einem speziellen Mikrokosmos. Basel ist von seiner Größe sehr überschaubar, die Möglichkeiten wegzugehen sind an zwei Händen abzuzählen, die wahnwitzigen Preise beim Ausgang, die Vorliebe vieler Roche-Freunde sich ausschließlich in Firmenfreundeskreise zu bewegen und die Tendenz vieler Basler an öffentlichen Orten unter sich zu bleiben vervollständigen die Zutatenliste zu einer Welt, die angenehm (man will es sich ja gut gehen lassen in der Ferne), stimulierend (jeder ist ständig im Kontakt mit neuen Leuten und versucht interessant zu wirken) und witzig (manchen gelingt das auch) ist, sich manchmal allerdings auffällig stark um sich selbst dreht. Das führt dazu, dass ich am meisten Vergnügen habe, wenn ich mit tollen Leuten an schönen, entspannten Orten Zeit verbringe. Basel ist dafür wie geschaffen: Im Sommer spielt sich das gesamte Stadtleben an der Rheinpromenade ab und ihre Einwohner verstehen sich sehr gut darin das Zusammensein im Stile der amerikanischen Ureinwohner mit viel Rauch zu zelebrieren – ob der von einem Grill oder den omni-präsenten grünen Zigaretten kommt spielt dabei keine Rolle.

In Bremen ist das anders: Begegnungen und Gespräche mit Fremden ergeben sich wie selbstverständlich, dem Klischee über den typischen, verschlossenen Norddeutschen zum Trotz. Mir fällt es immer schwer bei der Beobachtung einer Unterhaltung zu entscheiden ob sich die Leute gut kennen oder erst vor 5 Minuten kennengelernt haben. Wenn man durch die Stadt läuft ist es immer wieder bemerkenswert, wie erstaunlich hoch im Anbetracht der Größe Bremens die Anzahl von Menschen ist mit denen man sich schon mal unterhalten hat oder die man vom Sehen kennt. Hierbei scheint mir erwähnenswert, dass man sie meist von irgendeiner durchzechten Kneipennacht kennt und nicht wie in Basel von einem Apéro mit feinem Prosecco auf der auch stets ein paar Arbeitskollegen rumschwirren.

Basel ist die Stadt des Zebrastreifens. Es gibt gigantische Kreuzungen im Herzen der Stadt wie z.B. den Aeschenplatz der komplett ohne den Einsatz von einer einzigen Ampel auskommt. Autofahrer haben es da nicht leicht und ich bewundere es, wie geduldig die Mehrheit der Luxuskarren-Besitzer sich von einem Streifen zum nächsten angeln ohne mal einen Rentner aus purer Warterei-Langweile zu überrollen. Nicht weniger imposant finde ich die Methode der Fußgänger, die sich nachdem sie den Augenkontakt mit dem Autofahrer gesucht haben ausführlich mit einem Wink bedanken. An meinem ersten Tag in Bremen fuhr ich nachts mit dem Fahrrad auf der Straße (alte Schweizer Angewohnheit. Dort wurden die Fahrradfahrer bisher nicht von der Straße verbannt), als sich von hinten ein Taxi näherte. Mir schlug ein dröhnendes Hupen entgegen. Als es auf meiner Höhe angelangt war, wurde noch ein wilder Versuch unternommen mich von der Straße zu drängen.

Am liebsten würde ich in beiden Welten gleichzeitig wohnen.

LF

Freitag, 15. Juli 2011

bitte aussteigen

Es war noch nicht lange hell, als sich am Umsteigebahnhof der Straßenbahnen schon die Menschen drängten, die gerade von zu Hause kamen und auf dem Weg in die Arbeit waren, Leute die einsteigen, aussteigen, sitzen, anstehen. Was die Uhrzeit angeht, das spielte keine Rolle mehr, nicht für uns. Der Abend war ja sowieso schon lang genug gewesen. Wir hatten gerade in einem Club das letzte Bier ausgetrunken, dort, wo aus schreiendem Licht, schillernder Musik, bebenden Bewegungen, Schweiß und unterschiedlichen Wahrnehmungen eine andere Realität entsteht, die dann plötzlich auf das Leben der anderen trifft.

Am Umsteigebahnhof also setzte ich meinen Begleiter in die Straßenbahn – ich wollte mit dem Fahrrad weiter. Unser Ziel war nur zwei Haltestellen entfernt, bevor sich die Türen schlossen, sagte ich ihm noch schnell, dass er an der übernächsten Haltestelle aussteigen müsse. Meine Worte fanden keinen Eingang in seine Gehörgänge, und er keinen Ausgang aus der Bahn. Denn als ich an der Haltestelle ankam, war er nicht da und die Straßenbahn war schon längst weitergefahren. Auf dem Telefon konnte ich ihn auch nicht mehr erreichen, also entschied ich mich, weiterzufahren. Ich hatte schließlich unbändigen Hunger und war mir sicher, dass er irgendwann wieder zu klarem Bewusstsein kommen würde, um nach Hause zu finden.

Als ich einige Stunden später aufwachte, las ich auf meinem Handy eine Textnachricht, die er mir geschrieben hatte, als es wieder konnte: „Hilfe, ich bin glaub ich 4 stunden straßenbahn gefahren...“ Mit der selben Bahn, in die ich ihn gesetzt hatte, fuhr er den ganzen Morgen vom einen Ende der Stadt zum anderen, bis ihn die Straßenbahnfahrerin fragte, wo er denn eigentlich hinwolle.

JR

Sonntag, 30. Januar 2011

Ni mesa sin pan, ni ejército sin capitán.

Während in einem der kleinen Orte im Norden Andalusiens gemächlich der Tag anbricht, findet auf den Strassen ein kleines soziales Phänomen statt, das sich auf diese Weise wohl in vielen kleinen und großen Orten und Städten in ganz Spanien abspielt. Nach und nach verlassen die Bewohner zwar mit morgendlicher Gemütlichkeit, aber nie ohne adrette Garderobe ihre Häuser, was auf den ersten Blick nicht besonders ungewöhnlich ist, doch sieht man etwas später noch einmal genauer hin, so wird man die vielen Dons bemerken, die sich mit einigen Stangen Brot in der Tasche oder Tüte soeben auf den Rückweg von der panaderia zum heimischen hogar gemacht haben, wo schon ihre Doña auf das tägliche Brot wartet. Ein spanisches Sprichwort sagt ja auch, nichts ist härter als ein Tag ohne Brot.
Doch der Weg zwischen Back- und Wohnstube ist wegen dem hohen Don-Aufkommen zu dieser Tageszeit auf den Strassen mit zahlreichen Worten und Gesprächen gefüllt. Es sind in der Regel zwei alte Freunde, die an eine Hauswand gelehnt ihre Geschichten austauschen, gelegentlich kommt ein dritter oder vierter Bekannter dazu, die jeweils lautstark und mit ausladenden Gestiken untermalt ihre Sicht auf die Dinge präsentieren. Lautstärke der Stimme und Intensität der Gestiken entscheiden dabei maßgeblich über die Wichtigkeit der Gesprächsbeiträge. Sind alle Neuigkeiten ausgetauscht, darf sich schließlich die wartende Doña über die Stangen frisch duftendes Brot freuen und belohnt ihren Ehegatten mit einem herzlichen Kuss.
Der Gang zum Bäcker hat neben der Nahrungsbeschaffung also auch eine soziale Funktion, diese wiederum ist abhängig von der Tageszeit. Niemand außer ein unwissender guiri geht zur Mittagsstunde los, um Brot zu kaufen. Hat man aber trotz der anbrechenden siesta doch noch Brot bekommen, kann es passieren, dass man auf der Strasse von einem Unbekannten verhöhnt und gefragt wird, was man denn um diese Zeit mit dem Brot anfangen will. Im schlimmsten Fall ist das Brot aber bereits steinhart.
Aber nach einem alten spanischen Sprichwort kennt selbst der größte Hunger kein hartes Brot, a buen hambre no hay pan duro.

JR

Montag, 10. Januar 2011

Jahrewechseln - ein Sylvesterurlaub

Die Leute: eine Versammlung von frischen und langjährigen Liebhabern, guten Freunden, Bekannten, Unbekannten.
Der Ort: ein Haus auf einem Hügel über dem Lago Maggiore.
Die Tage: eine Mischung aus Trinkgelagen, Spieleabende/-tage, gemeinsames Kochen mit Freunden, Abende am Kaminfeuer mit Gitarrenmusik und gelassenem Rumliegen.


Es gibt keine Vorbehalte untereinander, keine Grundsatz - Diskussionen um sich selbst willen, keine eingespielten, routinierten Handlungsabläufe, wenige Floskeln.

Es gibt hübsche Frauen, es gibt Rauschmittel, es gibt den Seeblick, es gibt Wikinger-Schach, eine Dachterrasse, einen gigantischen Garten zum Räuber und Gendarm-Spielen, viele Flaschen des Hausweins in schönen Flaschen ohne Etikett, Sofas in denen man leben kann, eine Minibar aus Stein, ein offenes Haus mit fließendem Übergang zwischen der Kaminwärme im Inneren und der italienischen Wintermilde auf der Terrasse.

Es liegt eine gewisse Unbekümmertheit, eine Leichtigkeit, eine kindliche Neugierde an vielen Dingen in der Luft.

Was mir besonders imponiert an den Menschen: Man hat das Gefühl keiner denkt in Kategorien oder Schubladen. Die Mitmenschen werden nicht beurteilt, sondern so akzeptiert wie sie sind. Und es fällt sehr selten das Wort „Nein“ – die Leute haben Lust auf fast alles.

Es herrscht eine ehrliche Freude an großen, wackligen Türmen und einseitigen Louping-Louie Spielen mit anschließendem Vortanzen. Einschlafen und Aufwachen neben neuen Menschen. Allen zulächeln und angelächelt werden. Angesäuselt Sterne am Himmel fixieren, sich dabei solange drehen bis alles um einen rum verschwimmt und danach versuchen die Balance zu halten. In den Sofas mit einem Buch verloren gehen und im Augenwinkel das interessante Treiben beobachten. Einen zugefrorenen Swimming-Pool überqueren und das Knacksen, das bei jedem Schritt ertönt ausblenden - die Schritte nicht beschleunigen, in letzter Sekunde springen und nicht das Ufer erreichen. Weiterlaufen und versuchen ganz cool zu bleiben.

Feststellen wie langsam die Zeit, ja die Realität an Bedeutung verliert.

Aufwachen mit schwachen Erinnerungen. Allen präventiv eine Entschuldigung anbieten und anschließende Erleichterung, dass jeder glaubhaft behauptet, Spaß gehabt zu haben trotz einiger Zwischenfälle mit eigener Beteiligung.

Das Gefühl, dass solche Tage unvergesslich und einmalig sind. Das Zusammentreffen von genau diesen Menschen kein zweites Mal stattfinden wird. Das Leben im Hier und Jetzt begreifen: Die Vergangenheit liegt weit hinter uns und die Zukunft tritt noch früh genug ein.

Alle Konventionen von Sylvester werden unbewusst über Bord geworfen und die ewigen Erwartungen, die mit diesem Fest verbunden sind verschwinden: Feuerwerk-Kauf außer Acht lassen, kein Prosecco oder Champagner im Haus haben, abends essen auf was man Lust hat und was schnell zubereitet werden kann, den wichtigen Zeitpunkt verpassen, weil keiner eine Uhr oder ein Handy parat hat, zwei Tage nach Sylvester den Jahreswechsel wiederholen, damit sich diesmal auch jeder daran erinnern kann.

Ein Sylvester das im ursprünglichen Sinne keins war und gerade deswegen als einzigartig in Erinnerung bleiben wird. - LF

Freitag, 24. Dezember 2010

Was tun, wenn man einfach so geschlagen wird?

Lachen oder Weglaufen? Zurückschlagen oder Weinen vor Scham?
All diese Fragen gingen mir nicht durch den Kopf, als die fremdartige Handfläche meine bebende Backe verließ. Wieso sollte mich jemand schlagen? Und ich dachte immer ich sei von Haus aus immun gegen Angriffe von außen, da in mir seit jeher die Überzeugung steckte, dass der schmalbrüstige Brillenträger in den einschlägigen Schlägerrankings als Zielobjekt kaum mehr Punkte einbringt als eine Frau oder eine Zimmerpflanze.
Es passierte in Bremen. Die Nacht hatte bis zu jenem Zusammentreffen in der Bar einige amüsante und interessante Momente gesehen: Ein feucht-fröhliches Looping Louie-Spiel läutete den Abend ein, den ich hauptsächlich mit einer Berliner Reisebekanntschaft und einem bajuwarischen Studienkollegen verbringen sollte. Der Bayer moserte zunächst ausgiebig über die labile Technik des Spielgeräts, nach einigen Schlücken Pennerglück wurde das nicht mehr so genau gesehen und die Chips und Drinks rauschten wie eh und je durch Zimmer und Studentenkehlen. Um die Ankunft bei der gemeinschaftlich anvisierten, demokratisch abgestimmten Reggae/Dancehall – Party in der Lila Eule noch unbemerkt in eine noch nicht fühlbare Ferne zu schieben und einer Freundin Frohe Weihnachten zu wünschen, machte ich mich mit dem Berliner noch einen Abstecher zur Bleibe der besagten Freundin. Ich wundere mich im Nachhinein ernsthaft, dass sie nicht den ersten Schlag des Abends austeilte. Sie war gerade sehr eifrig damit beschäftigt, als letzte wache Bewohnerin ihrer WG die von der Weihnachtsfeier liegengebliebenen Halbdebilen aus ihrer Wohnung zu vertreiben, als wir mit wehenden Fahnen anrückten. In der Wäschekammer wurde daraufhin etwas geskatet, Korn als letzte Spirituose erkannt und vertilgt und viele philosophische Diskurse erörtert. Währenddessen trafen meine fixen Blicke einige Male die fragenden Augen einer Dame, die schon ihren Pyjama trug und Nachsicht gelten ließ als hätte sie es mit einem Kleinkind zu tun. Als wir endlich den eigentlich Grund des spätnächtlichen Ausflugs zurückerkundeten , wurde dezent der Abschied angekündigt und im folgenden taumelnden, vorweihnachtlichen Abschiedsgemenge wurde es noch hitzig-witzig. Die Ereignisse bei der Reggae-Feierlichkeit lassen sich vielleicht am akkuratesten mit einem Kommentar eines Mädels (an mich gerichtet) zusammenfassen: „Hör auf so zu tanzen, sonst mach ich mir gleich in die Hose!“ Am Ende blieb der harte Kern der Korntrinker, der noch auf ein Pils und ein bisschen Ruhe nach dem ganzen Krach in die benachbarte Bar „Eisen“ zog. Da saßen wir also, jeder an seinem Bier festhaltend, glücklich um diesen taktilen Fixpunkt, nachdem die visuellen Fixpunkte ein unkontrollierbares Eigenleben entwickelt hatten. Ich warf ein paar Bierdeckel nach Axel. Ich verfehlte ihn beim dritten oder vierten Versuch um einige Meter und traf seinen Sitznachbarn dessen Arm um eine weibliche Begleitung geschlungen war. Bevor ich mich versah, stand der Mann vor mir. Soweit ich mich erinnern kann, fragte er mich: „Willst du das weiter machen?“ (Antwort von mir: „Weiss nich“) und „Wollen wir vor die Tür gehen?“ (bei dieser Antwort war ich mir schon etwas schlüssiger und sagte: „Ne, glaube nich.“). Und es muss wenige Sekunden später gewesen sein, als sich seine Handfläche mit meiner Wange vereinte. Ich verlor etwas das Gleichgewicht und die Mannschaft Biergläser neben mir, darunter mein frisches Haake-Beck zersprangen an der Wand. Ich hatte den Schlag nicht gesehen, auch nicht die Bewegung des Arms und spürte nur ein leichtes Brennen auf meiner linken Wange. Was mich wirklich erboste, war der Verlust meines kühlen Bieres. Meine Freunde hatten den Vorfall anscheinend etwas zusammenhängender als ich erlebt und schoben in diesem intimen Moment meiner Biertrauer den Hünen zur Seite. Danach ging alles noch viel schneller: Wir sahen uns alle sehr überrascht an, so in etwa als ob wir Franz Beckenbauer beim geheimen HipHop-Battle mit Samy Deluxe erwischt hätten und lachten uns ins Fäustchen. Erneuter Einsatz des Nachbargasts. Langsames Aufbauen vor uns. In deutlichem Hochdeutsch formulierte er folgenden Satz für uns: „Könnt ihr kein Respekt zeigen?“. Dabei sah er eher meine Freunde an als mich, mein Lächeln muss durch den Schlag etwas an Ausdrucksstärke und Charisma verloren haben. Der zweite Schlag traf dann aber doch wieder mich. Wieder ging mir der ganze Vorgang eindeutig zu schnell. Diesmal spürte ich den Aufprall aber schon deutlicher. Mir wurde das alles zu blöd und ich holte mir ein Bier. Ich hoffte dabei inständig, dass es das gewesen sein muss, man kann sich ja nicht mehr als zweimal schlagen lassen, da muss man sich ja vielleicht irgendwie wehren schon allein wegen der männlichen Ehre und so. Und ich wollte einfach nur in Ruhe mein Bier trinken. Wir taten unser Bestes und lachten kein einziges Mal mehr. Ich hatte also genug Zeit den Kerl zu mustern und mir ein Bild von ihm zu machen: Er wirkte kein bisschen betrunken, eher gefasst. Er war groß gebaut, normal gekleidet und sah nicht verarmt und verwahrlost aus. Ich konnte mir keinen Reim aus ihm machen. Stutzig machte mich auch die Reaktion seiner Freundin: Sie reagierte gar nicht auf das Geschehene. Vielleicht braucht er das und haut jeden Abend einen um und sie kann oder will nichts dagegen tun. Oder vielleicht hat sie an seine Ehre appelliert und ihn dazu animiert mir eine rein zu hauen. Irgendwann wollten wir dann auch mal los, die Sonne lauerte schon hinter dem Horizont und es stand eine lange Reise nach Amsterdam bevor. Als ich aufstand, erhob sich fast gleichzeitig auch der Mann und lief forschen Schrittes auf mich zu. Ich nahm mir fest vor, dass es diesmal nicht ohne Gegenweher ablaufen werde, aber innerlich wusste ich, dass es mir eigentlich alles schon viel zu egal war. Besoffen verprügelt zu werden ist genauso wie besoffen Sex zu haben: Irgendwie zählt es nicht richtig. Er streckte mir seine Hand entgegen und sagte: „Ich bin übrigens der Mille“. Ich drehte mich um und ging. - LF

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