Kulturschock auf Raten
Vignetten
#1
Wenn ich mich morgens auf den Weg zur Uni mache, muss ich mir erst mal meinen Weg durch den Berufsverkehr bahnen. Ein Riesenchaos auf den Straßen. Während ich auf eine Lücke im nicht abbrechen wollenden Autostrom warte, überlege ich, ob ich nicht doch einfach den Rat beherzigen sollte, den mir der Herbergsvater im Budapester Hostel mit auf den Weg gab. „Geh einfach los. Bloß keinen Blickkontakt suchen! Sonst denken die, du siehst sie ja, und dann halten sie nicht an.“ Ungarische Autofahrer sind anscheinend sehr aufmerksam, aber auch recht rabiat.
Ungarischer Personennahverkehr :)
#2
Das Seminar ist zu Ende. Die Dozentin gibt die Lektüre für die nächste Sitzung an und wünscht allen einen schönen Tag, die ungarischen Studenten nicken freundlich, packen ihre Sachen zusammen und blicken verwundert auf die deutsche Austauschstudentin, die frenetisch mit der Faust auf den Tisch eindrischt. Was sie wohl damit bezwecken will?
#3
Ich habe in der Cafeteria wie immer ein Gericht gewählt, dessen Namen ich halbwegs aussprechen kann. Rein äußerlich betrachtet, sieht es aus wie Fleischklöße mit Tomatensoße. Von dem Geschmack bin sich so überrascht, dass ich schon geschluckt habe, bevor mir ein Laut der Verwunderung entfährt. Die Soße ist bapsüß! Schwimmen meine Frikadellen etwa in Pudding? Nein, den Tomatengeschmack kann ich auch herausfiltern. Offensichtlich wurden dem Gemisch aber einige Kilo Zucker zugefügt.
4#
Als ich den Installationstermin von dem Internetunternehmen sehe, bekomme ich fast einen Schlaganfall: 9.12. steht da. „Was, erst im Dezember soll ein Termin frei sein, um die lächerlichen Arbeiten zur Einrichtung unseres W-Lans für unsere Wohnung zu erledigen?!“ Doch zum Glück folgt gleich die Entwarnung: Gemeint ist der Mittwoch dieser Woche. Die Ungarn schrieben nämlich Tag und Monat in falscher Reihenfolge. Ein ähnliches Phänomen gibt es übrigens bei Namen: In bestimmten Situationen nennt man zuerst den Familien- und dann den Rufnamen. Ich hoffe, mein Vermieter nimmt es mir nicht übel, dass ich ihn lange mit Herr Ferenc adressiert habe, obwohl das eigentlich sein Vorname ist.
5#
Lange habe ich über das auffällige Verhalten der Ungarn in Aufzügen nachgedacht. Es ist völlig undenkbar, einen Lift zu betreten, ohne die Umstehenden höflich zu begrüßen. Ebenso förmlich verabschiedet man sich beim Verlassen der Kabine von seinen Mitfahrern. Eine mögliche Erklärung für dieses in Deutschland kaum anzutreffende Verhalten wäre, dass die Ungarn einfach ein sehr freundliches Volk sind. Sieht man sich zum Beispiel den Aufzug in unserer Platte etwas genauer an, drängt sich noch eine andere Deutung auf: Der Fahrstuhl mit seiner Holz-Schiebetür, die manuell geschlossen werden muss, bevor sich das Gefährt in Bewegung setzt, hat seinen eigenen Kopf. Mal geht während der Fahrt für ein paar Augenblicke das Licht aus. Mal hält er es nicht für angebracht, seine Fahrt zu vollenden, sodass man den letzten halben Meter mit einem beherzten Sprung überwinden muss. Mal überlegt er sich, auf das Drücken des Anfrageknopfes lieber nicht zu reagieren sondern regungslos in dem Stockwerk zu verharren, in dem er sich gerade befindet. Ergo: Die Fahrstuhlinsassen sind nicht ein zufällig zusammengewürfelter Haufen, nein! Sie sind eine Schicksalsgemeinschaft auf einer Reise mit ungewissem Ausgang! Man stelle sich vor, der Aufzug bliebe tatsächlich und endgültig stecken und man müsste seine letzten 72 Stunden mit einer Gruppe Menschen verbringen, die man noch nicht mal anständig begrüßt hat. Fatal! Die Verabschiedung derjenigen Glücklichen, die ihr Ziel unbeschadet erreicht haben, ist eine Art Solidaritätsbekundung: Man wünscht den Weggefährten einen ebenso erfolgreichen Abschluss der Fahrt. Außerdem kann man sich ja nie sicher sein, ob man seinen Nachbarn je wieder begegnet… Da ist ein Lebewohl ja wohl angebracht. Wieder ein Rätsel gelöst! (PS: Was, ich könnte ja auch laufen statt den Aufzug zu benutzen? Hallo?! Ich wohne im 5. Stock!)
#1
Wenn ich mich morgens auf den Weg zur Uni mache, muss ich mir erst mal meinen Weg durch den Berufsverkehr bahnen. Ein Riesenchaos auf den Straßen. Während ich auf eine Lücke im nicht abbrechen wollenden Autostrom warte, überlege ich, ob ich nicht doch einfach den Rat beherzigen sollte, den mir der Herbergsvater im Budapester Hostel mit auf den Weg gab. „Geh einfach los. Bloß keinen Blickkontakt suchen! Sonst denken die, du siehst sie ja, und dann halten sie nicht an.“ Ungarische Autofahrer sind anscheinend sehr aufmerksam, aber auch recht rabiat.
Ungarischer Personennahverkehr :)
#2
Das Seminar ist zu Ende. Die Dozentin gibt die Lektüre für die nächste Sitzung an und wünscht allen einen schönen Tag, die ungarischen Studenten nicken freundlich, packen ihre Sachen zusammen und blicken verwundert auf die deutsche Austauschstudentin, die frenetisch mit der Faust auf den Tisch eindrischt. Was sie wohl damit bezwecken will?
#3
Ich habe in der Cafeteria wie immer ein Gericht gewählt, dessen Namen ich halbwegs aussprechen kann. Rein äußerlich betrachtet, sieht es aus wie Fleischklöße mit Tomatensoße. Von dem Geschmack bin sich so überrascht, dass ich schon geschluckt habe, bevor mir ein Laut der Verwunderung entfährt. Die Soße ist bapsüß! Schwimmen meine Frikadellen etwa in Pudding? Nein, den Tomatengeschmack kann ich auch herausfiltern. Offensichtlich wurden dem Gemisch aber einige Kilo Zucker zugefügt.
4#
Als ich den Installationstermin von dem Internetunternehmen sehe, bekomme ich fast einen Schlaganfall: 9.12. steht da. „Was, erst im Dezember soll ein Termin frei sein, um die lächerlichen Arbeiten zur Einrichtung unseres W-Lans für unsere Wohnung zu erledigen?!“ Doch zum Glück folgt gleich die Entwarnung: Gemeint ist der Mittwoch dieser Woche. Die Ungarn schrieben nämlich Tag und Monat in falscher Reihenfolge. Ein ähnliches Phänomen gibt es übrigens bei Namen: In bestimmten Situationen nennt man zuerst den Familien- und dann den Rufnamen. Ich hoffe, mein Vermieter nimmt es mir nicht übel, dass ich ihn lange mit Herr Ferenc adressiert habe, obwohl das eigentlich sein Vorname ist.
5#
Lange habe ich über das auffällige Verhalten der Ungarn in Aufzügen nachgedacht. Es ist völlig undenkbar, einen Lift zu betreten, ohne die Umstehenden höflich zu begrüßen. Ebenso förmlich verabschiedet man sich beim Verlassen der Kabine von seinen Mitfahrern. Eine mögliche Erklärung für dieses in Deutschland kaum anzutreffende Verhalten wäre, dass die Ungarn einfach ein sehr freundliches Volk sind. Sieht man sich zum Beispiel den Aufzug in unserer Platte etwas genauer an, drängt sich noch eine andere Deutung auf: Der Fahrstuhl mit seiner Holz-Schiebetür, die manuell geschlossen werden muss, bevor sich das Gefährt in Bewegung setzt, hat seinen eigenen Kopf. Mal geht während der Fahrt für ein paar Augenblicke das Licht aus. Mal hält er es nicht für angebracht, seine Fahrt zu vollenden, sodass man den letzten halben Meter mit einem beherzten Sprung überwinden muss. Mal überlegt er sich, auf das Drücken des Anfrageknopfes lieber nicht zu reagieren sondern regungslos in dem Stockwerk zu verharren, in dem er sich gerade befindet. Ergo: Die Fahrstuhlinsassen sind nicht ein zufällig zusammengewürfelter Haufen, nein! Sie sind eine Schicksalsgemeinschaft auf einer Reise mit ungewissem Ausgang! Man stelle sich vor, der Aufzug bliebe tatsächlich und endgültig stecken und man müsste seine letzten 72 Stunden mit einer Gruppe Menschen verbringen, die man noch nicht mal anständig begrüßt hat. Fatal! Die Verabschiedung derjenigen Glücklichen, die ihr Ziel unbeschadet erreicht haben, ist eine Art Solidaritätsbekundung: Man wünscht den Weggefährten einen ebenso erfolgreichen Abschluss der Fahrt. Außerdem kann man sich ja nie sicher sein, ob man seinen Nachbarn je wieder begegnet… Da ist ein Lebewohl ja wohl angebracht. Wieder ein Rätsel gelöst! (PS: Was, ich könnte ja auch laufen statt den Aufzug zu benutzen? Hallo?! Ich wohne im 5. Stock!)
Eva W. - 17. Sep, 23:11