Intermezzo aus dem Seminarraum
Die Dozentin erzählt etwas über Minderheiten in Pécs, aber ich bin anderweitig beschäftigt. Ich versuche, das Mädchen zu verstehen, das mir gegenübersitzt. Unentwegt wippt sie nervös mit den Knien auf und ab, und obwohl sie den Blick nie von ihrem Spiralblock löst, ist klar, dass sie mit äußerster Spannung den Worten der Dozentin lauscht. Bei jedem zweiten Satz zieht sie die Mundwinkel nach unten, so, als würde sie an einer Tasse Schwarztee nippen, die zu lange gezogen hat. Sie weiß ganz genau, dass die Frau Unrecht hat. Dass sie es besser weiß. Aber das will ihr niemand glauben. Sie ist wahrscheinlich die einzige im ganzen Seminar, die klar sieht. Alle anderen wollen es nicht wahrhaben.
„Bei der Volksbefragung haben ungefähr 300 000 Menschen angegeben, dass sie zur Minderheit der Roma gehören“, erläutert die Seminarleiterin. „Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge sind es fast doppelt so viele. Habt ihr eine Idee, woran das liegen könnte?“
„Vielleicht waren die Wissenschaftler nicht in den Romadörfern“ kommentiert das Mädchen und spendiert dazu ihr bitterstes Lachen. Dann sagt sie noch, wie zu sich selbst, aber laut genug, dass es jeder hört: „Es werden immer mehr und mehr und mehr. Das sieht man doch.“ Und die Seminarleiterin? Die lacht ebenfalls kurz unbeholfen über den Scherz und fährt fort.
In der Pause stellt sich Zsófia* uns Erasmusstudenten vor. Sie ist ein weltoffenes junges Mädchen, vielleicht 20 Jahre alt. Gerade lernt sie Russisch, Deutsch ist als nächstes dran. Im Anschluss an die Sympathiebekundungen für unsere Herkunftsländer meint sie, sich für die Inkompetenz der Dozentin entschuldigen zu müssen. „Die redet einen Haufen Mist. Dass die Probleme mit den Zigeunern sozial begründet sind. It´s just not true.“ Ich will gerade fragen, was denn dann der Auslöser für die schwierige Situation der Roma in Ungarn ist, doch Zsofia redet schon weiter. „Und was sie über Jobbik gesagt hat, stimmt auch nicht. Die sind gar nicht so extrem.“ Jobbik, ist das nicht die Partei, die das Territorium der Ungarischen Staates vor dem Vertag von Trianon 1920 zurückhaben will? Die gegen Ausländerhetzt und „antizionistische“ Großdemonstrationen veranstaltet? Die europafeindliche Parolen verbreitet und paramilitärische Versammlungen und Aufmärsche liebt? Diese Partei findet Zsófia ganz ok.
Da kommt die Dozentin zurück. Es geht jetzt um die Situation der Minderheiten im Sozialismus und in der Wendezeit. „In den 80er Jahren waren viele Roma in der Baubranche beschäftigt, aber sie bekamen sehr viel geringere Löhne als die ungarischen Arbeiter. Und in der Wirtschaftskrise, die auf die Wende folgte, wurden die Roma zuerst entlassen“. Zsófias Knie wippt immer schneller, ihr Kuli hinterlässt auf dem Spiralblock immer ausuferndere Spuren. Man kann sehen, dass sie kaum noch an sich halten, diesen Lügen länger zuhören kann. „Und deshalb ist die Arbeitslosigkeit heute das größte Problem der Romaminderheit“. „Aber das ist doch lange her!“ Der Damm ist gebrochen. Mit kaum gebremster Aggressivität fährt Zsófia die Seminarleiterin an. „Die wollen doch nicht arbeiten!“ Und obwohl ihr niemand einen Vorwurf gemacht hat, fügt sie noch hinzu: „Es ist nicht meine Schuld!!“
„Es ist nicht meine Schuld und nicht deine Schuld,“ versucht die Dozentin zu deeskalieren, „sondern es liegt an bestimmten politischen Fehlern, die..“ „It`s because they are genetically debased.“ Endlich hat Zsófia ausgesprochen, was sie die ganze Zeit sagen wollte. Sie sieht nicht mal hoch dabei, sie weiß ja, wie die Reaktion aussieht. Obwohl sie nicht sehr laut gesprochen hat, merkt sie, wie ihre Worte im Seminarraum nachhallen. Im Prinzip wissen doch alle, dass das die Wahrheit ist, aber natürlich traut sich niemand, ihr zu Hilfe zu eilen und zuzustimmen.
„Well, that´s your opinion,“ sagt die Dozentin nach einer Weile. Und dann schnell weiter im Programm, damit nicht doch noch jemand auf diese offen rassistische Aussage reagiert.
Zsófia lehnt sich zurück, jetzt deutlich entspannter. Sie weiß, dass sie keinen Widerspruch zu befürchten hat. Was würde das auch bringen? Umfragen zufolge würde jeder dritte ungarische Student die rechtsradikale Partei Jobbik wählen.
* Name geändert
„Bei der Volksbefragung haben ungefähr 300 000 Menschen angegeben, dass sie zur Minderheit der Roma gehören“, erläutert die Seminarleiterin. „Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge sind es fast doppelt so viele. Habt ihr eine Idee, woran das liegen könnte?“
„Vielleicht waren die Wissenschaftler nicht in den Romadörfern“ kommentiert das Mädchen und spendiert dazu ihr bitterstes Lachen. Dann sagt sie noch, wie zu sich selbst, aber laut genug, dass es jeder hört: „Es werden immer mehr und mehr und mehr. Das sieht man doch.“ Und die Seminarleiterin? Die lacht ebenfalls kurz unbeholfen über den Scherz und fährt fort.
In der Pause stellt sich Zsófia* uns Erasmusstudenten vor. Sie ist ein weltoffenes junges Mädchen, vielleicht 20 Jahre alt. Gerade lernt sie Russisch, Deutsch ist als nächstes dran. Im Anschluss an die Sympathiebekundungen für unsere Herkunftsländer meint sie, sich für die Inkompetenz der Dozentin entschuldigen zu müssen. „Die redet einen Haufen Mist. Dass die Probleme mit den Zigeunern sozial begründet sind. It´s just not true.“ Ich will gerade fragen, was denn dann der Auslöser für die schwierige Situation der Roma in Ungarn ist, doch Zsofia redet schon weiter. „Und was sie über Jobbik gesagt hat, stimmt auch nicht. Die sind gar nicht so extrem.“ Jobbik, ist das nicht die Partei, die das Territorium der Ungarischen Staates vor dem Vertag von Trianon 1920 zurückhaben will? Die gegen Ausländerhetzt und „antizionistische“ Großdemonstrationen veranstaltet? Die europafeindliche Parolen verbreitet und paramilitärische Versammlungen und Aufmärsche liebt? Diese Partei findet Zsófia ganz ok.
Da kommt die Dozentin zurück. Es geht jetzt um die Situation der Minderheiten im Sozialismus und in der Wendezeit. „In den 80er Jahren waren viele Roma in der Baubranche beschäftigt, aber sie bekamen sehr viel geringere Löhne als die ungarischen Arbeiter. Und in der Wirtschaftskrise, die auf die Wende folgte, wurden die Roma zuerst entlassen“. Zsófias Knie wippt immer schneller, ihr Kuli hinterlässt auf dem Spiralblock immer ausuferndere Spuren. Man kann sehen, dass sie kaum noch an sich halten, diesen Lügen länger zuhören kann. „Und deshalb ist die Arbeitslosigkeit heute das größte Problem der Romaminderheit“. „Aber das ist doch lange her!“ Der Damm ist gebrochen. Mit kaum gebremster Aggressivität fährt Zsófia die Seminarleiterin an. „Die wollen doch nicht arbeiten!“ Und obwohl ihr niemand einen Vorwurf gemacht hat, fügt sie noch hinzu: „Es ist nicht meine Schuld!!“
„Es ist nicht meine Schuld und nicht deine Schuld,“ versucht die Dozentin zu deeskalieren, „sondern es liegt an bestimmten politischen Fehlern, die..“ „It`s because they are genetically debased.“ Endlich hat Zsófia ausgesprochen, was sie die ganze Zeit sagen wollte. Sie sieht nicht mal hoch dabei, sie weiß ja, wie die Reaktion aussieht. Obwohl sie nicht sehr laut gesprochen hat, merkt sie, wie ihre Worte im Seminarraum nachhallen. Im Prinzip wissen doch alle, dass das die Wahrheit ist, aber natürlich traut sich niemand, ihr zu Hilfe zu eilen und zuzustimmen.
„Well, that´s your opinion,“ sagt die Dozentin nach einer Weile. Und dann schnell weiter im Programm, damit nicht doch noch jemand auf diese offen rassistische Aussage reagiert.
Zsófia lehnt sich zurück, jetzt deutlich entspannter. Sie weiß, dass sie keinen Widerspruch zu befürchten hat. Was würde das auch bringen? Umfragen zufolge würde jeder dritte ungarische Student die rechtsradikale Partei Jobbik wählen.
* Name geändert
Eva W. - 24. Sep, 19:35
Buch-Zigeuner
das ist aber ein spannender Bericht aus dem Seminarraum zum brennenden Stoff. Ich babe mich ein petit peu kundig gemacht und auch gleich eine Rezension verfasst zu einem m. E. kundigen Buch aus der Sicht eines "Zugereisten". Ich schicke Ihnen mal den Text per Emil (geht das denn schon in der Kulturhauptstadt?), wenn Sie Möchte auch das Buch an die mir noch nicht bekannte Adresse oder nach Waiberstadt. Das Thema hat inzwischen auch hier schon Relevanz, im westlichn D. allerdings mehr als in unseren sibirischen Breiten.
Wie schmeckts dort, umami?
Herzliche Grüße aus Magdeburg von uns beiden Erles! (Schreib mal wieder! ...hieß früher eine Werbung der Post)